Semesterarbeit von Johannes Ranke an der Abteilung für Umweltnaturwissenschaften, ETH Zürich im Wintersemester 1996/97

Stadtplanung in Curitiba

Ein Erfolg auf der ganzen Linie?

Betreuung durch R. Schertenleib und B. Truffer

Bearbeitung als HTML-Dokument im Februar 2000

Inhalt:

Einleitung und Motivation

1. Die Problematik schnellwachsender Städte in Entwicklungsländern

2. Vorgeschichte und Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung in Curitiba

2.1. Geographische Situation der Stadt Curitiba

2.2. Geschichte der Stadtentwicklung und -planung bis 1965 (Menezes 1996)

2.3. Politische Rahmenbedingungen und Verwaltungskultur in Brasilien

3. Besonderheiten der Planung in Curitiba (1965-80)

3.1. Voraussetzungen einer effizienten Implementierung

3.2. Die Entwicklung der strukturellen Achsen mit den Buslinien und der Fussgängerzone im Zentrum

3.3. Die Verknüpfung der Hochwasserproblematik mit der Bereitstellung von Grünraum

3.4. Andere Elemente der Stadtplanung

3.5. Curitiba als "moderne Stadt"

4. Entwicklung in der Peripherie: Bildung von Favelas und Selbstorganisation der Bewohner

4.1. Entstehung und Charakterisierung der Stadtrandsiedlungen

4.2. Entstehung, Struktur und Zweck der "Associações de Moradores"

4.3. Forderungen der Associações de Moradores und deren Präsentation

4.4. Selbsthilfeaktionen und das Urbanisierungsprojekt der Associações

4.5. Das Verhätnis der öffentlichen Hand zu den Associações und deren Bemühungen um die Frage der Favelas

5. Weitere Entwicklung der Stadtplanung

5.1. Die Zeit der Partei der demokratischen Bewegung

5.2. Die Zersplitterung der Associações

5.3. Abfallmanagement und Einbezug der Bevölkerung

5.4. Innovative Instrumente in der Umsetzung und der Erfolg in der Weltöffentlichkeit

5.5. Projekte für Postkarten und Prospekte

5.6. Das "öffentliche Interesse" als Leitlinie für eine autoritäre Stadtverwaltung

6. Synopsis

6.1. Curitiba als "capital ecológico"?

6.2. Hochglanzprospekte und Industrieansiedlungen: Hat der curitibanische Ansatz Zukunft?

6.3. Liegt die Explosion der städtischen Bevölkerung in Entwicklungsländern im Projekt der Moderne begründet?

Literatur

Das Abbild einer Stadt ist ihre eigene Bevölkerung, offenbart in ihrem städtischen Alltag, ertappt in ihrer kostbarsten Essenz, ihrer Art zu sein, zu handeln, zu lachen.

Das Curitiba, das hier behandelt wird, ist grün, in Frieden mit der Natur. Gleichsam scheu, wie es sich Einwanderern gebührt, die wir hier so viele sind. Waghalsig in ihren regelmässig avantgardistischen Lösungen. Schlicht, wie der Morgen des Frühlings. Ewig, indem sie die Moderne sucht, den Spuren der Vergangenheit folgend und Wege der sozialen Gleichheit erschaffend.

Jaime Lerner
dreimaliger Bürgermeister von Curitiba
(Ravazzani, 1991)

Wir kamen hierher in die Stadt
vertrieben von dort, vom sertão
Wir dachten, an diesem Ort,
da bessert die Situation
Wir sahen, das ist nicht die Wahrheit
Es war eine simple Täuschung
Wir mussten gehen und wohnen,
In einem Winkel der Invasion

Inês
Zuwanderer aus dem Nordosten
(Rosa 1991)

Einleitung und Motivation

Die vorliegende Arbeit hat die Erfolge und Grenzen der Stadtplanung in Curitiba zum Gegenstand, soweit diese sich aus einer Recherche in der Stadt im Dezember 1996 und dem anschliessenden Literaturstudium ergeben haben.

In einer Zeit, in der die Grossstädte in Drittwelt- und Schwellenländern von chaotischen Entwicklungen in ihren Wachstumsregionen am Stadtrand geprägt sind, weil weder genügend politischer Wille noch die Planungs- und Implementierungskapazitäten vorhanden sind, um die wildwuchernden Stadtrandsiedlungen erschliessungstechnisch und sozial in die Stadtstrukturen zu integrieren, erweckt die Stadt Curitiba seit den siebziger Jahren internationale Aufmerksamkeit durch eine Stadtplanung, die mit innovativer und aktiver Planung eine gewisse Ordnung aufrechterhalten konnte. Der Raum, den Curitiba in der internationalen Presse einnimmt und die internationalen Preise, die die Stadt gewinnen konnte, legen die Frage nahe, inwiefern Curitiba den Bedingungen, denen eine Grossstadt in einem Land wie Brasilien heute ausgesetzt ist, durch die Möglichkeiten der formalen Planung trotzen konnte und ob das Image der Stadt nicht durch das starke Bedürfnis der internationalen öffentlichkeit nach einem Symbol der Bewältigbarkeit der urbanen Wachstumsproblematik ein Stück weit überhöht wurde.

Angesichts der rasanten Zunahme der Stadtbevölkerung in Entwicklungsländern und der damit verbundenen sozialen und ökologischen Verarmung der Wachstumsregionen an den Stadträndern ist die Frage nach den Möglichkeiten planerischer Kontrolle solcher Entwicklungen brisant.

Die Hinweise auf eine technokratisch-autoritäre Prägung des Planungsstils in Curitiba stehen insbesondere im Widerspruch zu modernen Ansätzen, die vermehrt auf den Einbezug von NGOs im Sinne einer Nutzung der Selbstorganisation setzen. Diese von der Regierung unabhängigen non-profit-Organisationen stellen Hoffnungsträger einer von Resignation bezüglich formaler Planungsansätze gekennzeichneten Stadtplanung dar. Es ist deshalb Ziel dieser Arbeit, das Spannungsfeld zwischen erfolgreicher Raumordnung und unkontrollierten Entwicklungen zu beschreiben. Besondere Bedeutung wird dem Verhältnis zwischen der Stadtregierung und den Bewohnern der Favelas beigemessen, die sich organisiert haben, um für ihre Wohnflächen und deren Erschliessung zu kämpfen.

Eine thematische Einführung in den Kontext der Stadtplanung in Entwicklungsländern bildet den Hintergrund für die Bearbeitung des Fallbeispiels Curitiba.

Darauf sollen im zweiten Kapitel die dargestellten Entwicklungen in Curitiba durch einen historischen Abriss eingeordnet sowie der Zusammenhang zu gesamtbrasilianischen Entwicklungen und Gegebenheiten hergestellt werden.

Im dritten Kapitel folgt eine konzentrierte Darstellung der wesentlichen und besonderen Aspekte der Stadtplanung von Curitiba, gewissermassen als These eines technisch-autoritären Planungsansatzes.

Das vierte Kapitel bilden eine ausführlichere Beschreibungen der Entstehung der Favelas in Curitiba, der Organisation ihrer Bewohner und des Umgangs der Stadtverwaltung mit deren Problematik. Aufgrund der mangelnden Aktualität der Quellen bezüglich der "Associações de Moradores" erfolgt eine Konzentration auf die Anfangsphase von 1977 bis 1983. Dieser Teil ist als Antithese zum dritten Kapitel zu verstehen.

Als Abrundung des darstellenden Teils der Arbeit werden im fünften Kapitel neuere Entwicklungen dargestellt, die für ein Verständnis der Verhältnisse in Curitiba wichtig sind.

Das sechste Kapitel bringt eine Zusammenschau und kritische Bemerkungen zu den dargestellten Phänomenen sowie den Versuch einer Antwort auf die Frage nach dem Umfang des Erfolgs der Stadtplanung in Curitiba.

zum Inhaltsverzeichnis

1. Die Problematik schnellwachsender Städte in Entwicklungsländern

Die enorme Zunahme der globalen Bevölkerung geht mit einem besonders akzentuierten Wachstum der urbanen Bevölkerung in Entwicklungsländern einher. Während die ländliche Bevölkerung in Entwicklungsländern im Jahr 1985 noch über die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachte, die dortige städtische dagegen erst etwa ein Viertel, prognostiziert die Weltbank für das Jahr 2000 eine Anteil der urbanen Bevölkerung in Entwicklungsländern von über 30% oder 2'000'000'000 Menschen. Es wird erwartet, dass sich dieser Trend weiterhin fortsetzt, so dass im Jahr 2025 fast die Hälfte der Menschheit, also ca. 4'000'000'000 Menschen, in städtischen Siedlungen in Entwicklungsländern wohnen wird. Dabei geht man davon aus, dass die Grösse der globalen ländlichen Bevölkerung sowie der städtischen der "entwickelten" Länder weitgehend gleichbleibt.

Das Wachstum der Städte resultiert dabei sowohl aus endogenem Wachstum als auch aus der anhaltenden Migration vom Land in die Stadt. Die Gründe, die für diese Migration angeführt werden, reichen von Vertreibungen und Unzugänglichkeit des Landes für Arme bis zu den "anlockenden strahlenden Lichtern der Stadt". Der Hauptgrund für die Abwanderungen vom Land scheint aber ein ökonomischer zu sein: Die Notwendigkeit, mehr zu verdienen (Devas and Rakodi 1993, S. 23). Oft reicht die blosse Chance, ein zulängliches Einkommen in der Stadt zu verdienen, aus, um die Entscheidung für die Migration zu bewirken, selbst wenn diese Chance klein ist.

Betrachtet man dieses Wachstum, das den Stadtverwaltungen von Millionenstädten jährlich zehntausende bis hunderttausende neuer Schützlinge beschert, genauer, so sieht man, dass die städtischen Strukturen in mehrfacher Hinsicht überfordert werden.

Zum einen siedeln sich Zuwanderer, die meist von Mittellosigkeit vom Land in die Stadt getrieben wurden, aber auch Städter, die sich keine reguläre Behausung mehr leisten können, an Orten an, die keinen Preis haben, weil sie für die Immobilienspekulation uninteressant sind und niemand sonst dort wohnen will (Main and Williams 1994, S. 161). Typischerweise sind das stark geneigte Flächen, die ständiger Erdrutschgefahr ausgesetzt sind oder Flussufer, die zum Teil regelmässig überschwemmt werden. Die Bewohner nehmen diese Risiken meist bewusst in Kauf, um in der Nähe ihrer Erwerbsmöglichkeiten zu sein und so die Mobilitätskosten gering zu halten. Zum Teil werden auch unerschlossene, brachliegende Flächen besiedelt, deren Besitzer entweder auf Wertsteigerung hofft oder sie für eine künftige Nutzung freihät. Auf solchen Flächen kommt das Risiko der gewaltsamen Vertreibung hinzu. Diese Besiedelungen finden grösstenteils zunächst illegal statt, da die öffentliche Hand überfordert ist, genügend neue Grundstücke zur Verfügung zu stellen und der Bodenmarkt auf der anderen Seite für die finanziell Mittellosen blind ist.

Auch der formelle Arbeitsmarkt versagt vor einem derartigen ständigen Zuwachs des Angebotes unspezialisierter Arbeitskräfte. Als Folge bildet sich der sogenannte informelle Sektor heraus, zu dem vielfältige Handels- und Dienstleistungstätigkeiten gezählt werden, die ohne formelle Regelung des Arbeitsverhältnisses ausgeübt werden, und dessen Bedeutung für Lateinamerika auf zwei Fünftel bis zwei Drittel der Erwerbstätigkeiten in den Städten geschätzt wird (Gilbert and Gugler 1992, S. 97).

Da sich viele Stadtregierungen unfähig erwiesen haben, eine rationale Raumordnung während der Expansion aufrechtzuerhalten ergeben sich auch massive Verkehrsprobleme, die nicht nur die Bevölkerung in der Peripherie betrifft, sondern alle, die wegen der räumlichen Trennung von Wohnung und Erwerb auf Mobilität angewiesen sind. Die rapide Zunahme der individuellen Motorisierung weiter Bevölkerungsschichten hat in vielen Städten die Entwicklung von effizienten Bussystemen erschwert.

Mit der ständigen Ausdehnung des urban besiedelten Gebietes ist auch ein ständiges Bedürfnis nach Ausweitung der Versorgung mit Wasser und Elektrizität sowie der Entsorgung von Abwasser und festen Abfällen verbunden, wobei vor allem letzteres mit zunehmender Konzentration der Menschen elementare Bedeutung gewinnt.

Insgesamt ergibt sich aus der Überforderung des Willens und der Mittel der Stadtregierungen die Herausbildung von enormen Schichten verelendeter Stadtbewohner, die in den slums, Favelas, etc. unter notdürftigsten Bedingungen um ihr Überleben kämpfen. Die sozialen Ungleichheiten führen zu erhöhter Gewaltbereitschaft und zur organisierten Kriminalität, die oft mit Drogenhandel einhergeht.

Eine Kontrolle des urbanen Wachstums wird oft kaum versucht, lediglich in China konnte durch rigide Steuerungsmassnahmen das Wachstum der Stadtbevölkerung über längere Zeit auf etwa 2 % gehalten werden, wobei die strikte Ein-Kind-Politik und die totalitäre Kontrolle über Wohnorte und Arbeitsstellen die Bildung von irregulären städtischen Siedlungen stark erschwerte (Devas and Rakodi 1993, S. 30).

Die Frage, ob und wie der Staat eingreifen soll, wird vor verschiedenen Hintergründen geführt. Einerseits wird gesagt: "alle Nachweise deuten darauf hin, dass die grosse Mehrheit der städtischen Zuwanderer der Meinung sind, sie hätten ihre Situation durch den Ortswechsel verbessert." (Devas and Rakodi 1993, S.27). Auch die desaströsen Auswirkungen vergangener staatlicher Eingriffe und die Regelungskräfte eines "ungestörten" Marktes werden aufgeführt. Auf der anderen Seite sind die Unvollkommenheiten des Marktes unabhängig von staatlichen Interventionen offensichtlich, da die Bereitschaft, positive Externalitäten zu erzeugen und negative zu tragen, bei rein markwirtschaftlich orientierten Entitäten nicht existiert und demzufolge der Staat dafür aufkommen muss.

Die Bildung des informellen Sektors neben dem formalen Arbeitsmarkt, aber auch die Organisation von Bewohnern der unzureichend versorgten Siedlungen in Organisationen, die oft unter die vielzitierten NGOs gezählt werden, deuten auf eine Eigendynamik, die oft stärker ist als die Kraft der Regierungen, die bestehenden Ordnungsstrukturen auszuweiten. Sowohl der informelle Sektor als auch die "unabhängigen" NGOs werden heute zunehmend positiv gewertet und als Chance begriffen, durch die Unterstützung und Lenkung dieser Tendenzen eine Verbesserung der bestehenden Verhältnisse zu erreichen, wobei der "Übergang von paternaler Wohltätigkeit zu ermutigenden, gemeinschaftsbezogenen Projekten in vielen Teilen der Welt oft schwierig ist." (Rakodi in Devas and Rakodi 1993, S. 224).

Die derzeitige Beurteilung der Planung, die sich mit der Problematik des dramatischen Wachstums der Städte in Entwicklungsländern befasst, wird durch folgendes Zitat deutlich: "Leider deutet alles darauf hin, dass Stadtplaner und -manager dieser Herausforderung unterlegen sind. [...] Mit wenigen Ausnahmen erwiesen sich ihre Massnahmen als total inadäquat" (a.a.O., S. 1).

Auch Curitiba gehört zu den schnellwachsenden Städten und sieht sich mit anhaltenden Zuwandererströmen konfrontiert. Auf der anderen Seite hat sich die Stadt durch kontinuierliche und effiziente Planung und Administration einen internationalen Namen erworben, und wird immer wieder als Vorbild zitiert. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, worin die Vorbildlichkeit in Curitiba lag und inwiefern dieser Vorbildlichkeit durch die Realität von Elend und Verarmung Grenzen gesetzt sind.

zum Inhaltsverzeichnis

2. Vorgeschichte und Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung in Curitiba

2.1. Geographische Situation der Stadt Curitiba

Die Stadt Curitiba, mit vollem Namen "Vila de Nossa Senhora da Luz e Bom Jesus de Pinhais", liegt im Bundesstaat Paraná, dem nördlichsten der drei zum Süden Brasiliens gerechneten Staaten. Etwas unterhalb des 25. Breitengrades südlicher Breite gelegen, befindet sie sich auf der ersten Hochebene nach dem Gebirgszug der "Serra do Mar", die sich an der Ostküste Brasiliens entlangzieht. Das Stadtgebiet wird von vielen Flüssen durchzogen, von denen einige auch in demselben entspringen. Durch die Höhe von ca. 960 m über dem Meeresspiegel wird das subtropische Klima auf eine Jahresdurchschnittstemperatur von 17 Grad Celsius gemildert, wobei in der kalten Jahreszeit von Zeit zu Zeit Frost auftreten kann. Im Stadtgebiet leben ca. 1'600'000 Einwohner, zusammen mit den umliegenden Agglomerationsgemeinden ergibt sich eine Population von über zwei Millionen.

Zusammen mit den Grossstadtregionen um São Paulo und Rio de Janeiro kann Curitiba zum "industriellen Motor Brasiliens" gerechnet werden. Ebenso wie diese bekannten Megalopolen war Curitiba während der industriellen Revolution Ziel grosser Siedlerströme, die der Stadt in diesem Jahrhundert erschreckende Wachstumsquoten und damit fast unkontrollierbar wachsende Stadtrandsiedlungen bescherte.

zum Inhaltsverzeichnis

2.2. Geschichte der Stadtentwicklung und -planung bis 1965 (Menezes 1996)

Die ersten Siedlungen von Einwanderern, die mit der intensiven Suche und Ausbeutung von Bodenschätzen wie Gold und Mineralien in Verbindung standen, entwickelten sich am Anfang des 17. Jahrhunderts auf dem Gebiet der heutigen Stadt Curitiba, das damals von Eingeborenen der Stämme Tupi-Guarani und Jê bewohnt war. Im Abschwung des Goldzyklus fingen die Bewohner an, eine agrarische Subsistenzwirtschaft aufzubauen. Nachdem die Siedlung im Jahr 1693 offiziell registriert wurde, erlangte sie als strategischer Punkt von Viehtransporten aus dem Süden zur Versorgung von Bergbaugesellschaften etwa in Minas Gerais im 18. Jahrhundert eine neue Bedeutung, indem sie eine Möglichkeit für die Überwinterung der Herden bot.

Im Jahr 1842, als sich die Funktion der Stadt von einem strategischen Punkt auf den Viehtransportwegen zu einem strategischen Punkt des Mate-Teehandels wandelte, wurde ihr dann offiziell das Stadtrecht verliehen. Die Favorisierung der Stadt ergab sich aus der Lage an den zwei wichtigen Bergstrassen, die Curitiba und das Innere des Staates mit der Küste verbanden. Wenig später, im Jahr 1853, wurde die Provinz São Paulo geteilt und Curitiba wurde mit damals etwa 6000 Einwohnern zur Hauptstadt der neugegründeten Provinz Paraná. Um den neuen Anforderungen an eine Hauptstadt gerecht zu werden, wurde ein französischer Stadtplaner namens Taulois verpflichtet, um neue Anlagen zu erstellen. Daraus resultierte ein erster Plan für Curitiba, der "Plano Taulois", der genau definierte rechte Winkel an den Strassenkreuzungen einführte und eine erste Vorahnung der zukünftigen Verkehrsflüsse durch die Innenstadt darstellte.

Aufgrund einer Nahrungsmittelkrise förderte die damalige Regierung der Provinz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konsequent die Ansiedlung von Einwanderern europäischen Ursprungs, mit dem Ziel, einen Gürtel mit landwirtschaftlichen Kolonien um die Stadt herum anzulegen, der den Versorgungsengpass überwinden würde. Die grössten Einwanderungsgruppen bildeten zuerst Deutsche, Polen und Italiener, danach Ukrainer, Franzosen, Engländer und Österreicher. Gemäss Schätzungen des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) zählte die Stadt im Jahr 1900 schon um die 50'000 Einwohner.

In dieser Zeit diversifizierte sich der Landbau gemäss der unterschiedlichen Herkunft der Einwanderer und es bildeten sich Kleinindustrien, die sich zu einer lokalen unternehmerischen Elite transformierte, deren Credo harte und hingebungsvolle Arbeit war. Innerhalb der Einwanderungsgruppen, die sich in bestimmten Vierteln um das Stadtzentrum herum niedergelassen hatten, gab es starken ethnischen Zusammenhalt.

Als Reaktion auf zwei Epidemien in den Jahren 1889 und 1891, die viele Todesopfer gefordert hatten, wurden erste Wasserversorgungs- und Abwassernetze installiert, mit Zugtieren betriebene Strassenbahnen gab es ab 1887. Der 1885 angelegte, zentral gelegene Stadtpark "Passeio Publico" war für brasilianische Verhältnisse ein sehr fortschrittliches Element im Stadtbild.

Obwohl die wichtigsten ökonomischen Interessen sich in der ersten Häfte des 20. Jahrhunderts primär auf das Land richteten, die Städte hingegen mehr als strategische Basis für die Autoritäten und kommerzialen Eliten dienten, gab es starke Bestrebungen, die Stadt zu verschönern und zu "hygienisieren". Der Bodenpreis wurde als Selektionsstrategie verwendet, um Bordelle, Spielsalons und Pensionen aus dem zentralen Bereich fernzuhalten. "Trunkenbolde, Kranke, Bettler, Einwanderer, Gammler und Prostituierte [...] störten und bedrohten die Elite von Curitiba. Für die Erhaltung der politischen Ordnung wurden diese 'vom Weg abgekommenen' mit Gewalt in die Vorstädte entfernt" (Shaaf und Gouvêa, 1991, S. 74, zitiert in Menezes, 1996, S. 62f.). Eine urbane Politik im engeren Sinne gab es nicht.

Der erste wirkliche Stadtentwicklungsplan "Plano Agache" ist nach dem französischen Urbanisten Donat Alfred Agache benannt, der durch seine stadtplanerischen Arbeiten, vor allem die Erschaffung der australischen Hauptstadt Canberra 1903, grosses internationales Ansehen genoss. 1940 hatte Curitiba eine Bevölkerung von ca. 141'000 Einwohnern erreicht. Durch die annähernde Verdoppelung der Bevölkerungszahl seit 1920 und die äusserst knappen, durch eine Wirtschaftskrise limitierten Mittel hatte sich die Infrastruktur, die seit 1911 auch elektrische Trambahnen und seit 1928 Omnibuslinien umfasste, drastisch verschlechtert.

Der Plan bestand aus einem Plan der Avenidas, aus der Einrichtung verschiedener funktionaler Zentren, einem Reglement für öffentliche Arbeiten und Zonierung sowie aus der Regelung von Freiräumen und deren Verteilung. Die funktionale Zonierung wurde als Heilmittel für die Stadt angesehen, die als Organismus wahrgenommen wurde. Dabei wurden explizit die Funktionen Wohnen, Verkehr, Erholung und Arbeiten etabliert. Die Massnahmen erstreckten sich auf drei Hauptaspekte, die für die Lösung der Probleme als wesentlich angesehen wurden:

Der Plan für die Hauptverkehrsachsen basierte auf einer ringförmigen Gliederung des Raumes, wobei die 4 Ringe durch grosse Strassen definiert wurden und gleichzeitig eine soziale Klassierung der entsprechenden Bewohner mit Gefälle nach aussen bedeuteten. Die Grundidee hinter dem Plan war also eine zentrale Versorgung und eine Ausrichtung der Stadt auf das Zentrum (Rabinovitch, 1993).

Abbildung 2: Der "Plano Agache" (IPPUC)

Vorgesehen war auch eine Kontrolle der Entstehung neuer Siedlungen. So sollte der Verkauf von Baugrundstücken nur bei Gewährleistung von Trinkwasserversorgung, Bepflanzung mit Bäumen sowie Regenwasserabfuhr und Abwasserkanalisation erlaubt sein. In Gebieten von Quellen bzw. Brunnen sollte die Parzellierung des Lands verhindert werden, um Grünraum und die Qualität des Wassers zu schützen. In diesem Sinn sollten auch Favelas vermieden werden, die beschrieben wurden als eine "Krankheit, die praktisch alle Städte grösserer Bevölkerungszahl betrifft. [...] Eine einzige Behausung einer Favela, die aufträte, wäre der Keim, und die Vermehrung dieses Virus ist entsetzlich." (Boletim PMC, 1943, S. 57, zitiert in Menezes, 1996, S. 67)).

Ab 1940 gab es einen gewaltigen wirtschaftlichen Schub im Norden des Staates durch die Expansion der Kaffeeproduktion über die Grenzen des Nachbarstaates São Paulo hinweg nach Süden. Die grosse Wertsteigerung des Landes und dessen spekulative Ausbeutung durch Unternehmer, die gleichsam eine private Kolonialisierung betrieben, zwang viele Tagelöhner und kleine Eigentümer, den Norden zu verlassen und sich in den Städten anzusiedeln. Dies akzentuierte das bis dahin schon staunenerregende Wachstum der Stadt.

Tabelle 1: Anzahl Einwohner der Stadt Curitiba. 1872-1920 Schätzungen des IBGS nach(Menezes, 1996, S. 58), 1940 und 1960 Zählungen (a.a.O. S. 68).

1872 1900 1920 1940 1960
12'650 49'760 79'000 140'700 361'300

In dieser Zeit tauchten auch neue Probleme für die Stadtverwaltung auf: Wolkenkratzer entstanden auf ungeordnete Weise und an ungeeigneten Orten, Fabriken und Unternehmen siedelten sich in Wohngebieten an. Ausserhalb des vom Plano Agache definierten urbanen Perimeters entwickelten sich illegale Siedlungen, die für das hydrologische Ökosystem eine Bedrohung darstellten, da sie sich in Talböden etablierten, die in keiner Weise erschlossen waren. Demgemäss war auch keine Abwasserkanalisation vorhanden. Ebenso wie die Wasservorkommen waren auch die Bewohner dieser Siedlungen selbst bedroht, da die hydrologischen Becken ständiger Überschwemmungsgefahr ausgesetzt waren.

Es resultierten die erste Luftbilderhebung und eine Komission für die Zonierung des städtischen Raums. Ende der 50er Jahre wurde dann eine Planungskommision für Curitiba eingesetzt.

Der Agache-Plan von 1943 wurde bis auf den Bau der radialen Strassen nicht implementiert, vor allem aus Mangel an öffentlichen Geldern. Die Idee einer globalen Planung für die Stadt hatte aber einmal Fuss gefasst und wirkte in der Gemeinschaft derjenigen, die Verantwortung für die Geschicke der Stadt übernahmen, weiter.

In den 60er Jahren wirkte sich in Brasilien die Bewegung "Ökonomie und Humanismus" aus Frankreich aus, deren Gründer Pater Lebret während seiner Aufenthalte in Brasilien seine Ideen von der grossen Bedeutung von Planung in allen Bereichen des Zusammenlebens in Kursen für Politiker, Regierungsbeamte und Lehrer verbreitete. In diesem Zusammenhang erschien im Jahr 1963 die Überprüfung des Plano Agache notwendig. Besonders eine Gruppe von Ingenieuren-Architekten von der 1912 als erste Universität Brasiliens gegründeten Bundesuniversität von Paraná machte sich für die Idee eines neuen Plano Diretor (Gesamtplan) stark. Unter ihnen war auch der Architekt Jaime Lerner, der gerade von einem Auslandsstudium zurückgekehrt war.

Die Bevölkerungszahl der Stadt lag 1965 bei etwa 600'000, von denen 44% im vom Trinkwasserversorgungsnetz erfassten Gebiet lebten, die aber dennoch nicht alle versorgt wurden. Im Gebiet mit Erfassung des Abwassers lebten 28% und 43% im Gebiet mit Müllsammlung (IPPUC 1965, zitiert in Menezes, 1996). Die Grünfläche pro Bewohner betrug weniger als 1 m2 und im zentralen Bereich gab es regelmässige Überschwemmungen.

zum Inhaltsverzeichnis

2.3. Politische Rahmenbedingungen und Verwaltungskultur in Brasilien

Bevor die Entwicklung der Stadt Curitiba nach 1965, die Entstehung der Favelas und das Verhältnis der Stadtverwaltung zu deren Bewohnern behandelt wird, sollen hier noch externe Einflussfaktoren, die für Curitiba spezifisch sind, rationalisiert werden. Wichtig erscheinen die Bevölkerungsentwicklung in ganz Brasilien, das Verwaltungsmodell der Regierung und deren wirtschaftliche Strategie sowie die demokratische Bewegung Brasiliens.

Bei Betrachtung der relativen und absoluten Entwicklung der Stadt- und Landbevölkerung Brasiliens zeigt sich, dass im Zuge des enormen Bevölkerungswachstums die Landbevölkerung bei einem prozentualen Rückgang von 84% (1940) auf 46% (1980) der Gesamtbevölkerung absolut gesehen dennoch zugenommen hat.

Tabelle 2: Entwicklung der Bevölkerungszahl gegliedert nach Grösse der Wohnlokalität
(gekürzt nach Martine 1992, zitiert in Menezes, 1996, S. 25)

Lokalität19401950 196019701980
>500'0003'170'000 (7,7) 5'766'000 (11,1)11'355'000 (16,2) 24'316'000 (26,1)37'486'000 (31,5)
20'000 - 500'0003'416'000 (8,3) 5'194'000 (10,0)8'831'000 (12,6) 13'975'000 (15,0) 26'298'000 (22,1)
Rural34'579'000 (84,0) 40'982'000 (78,9)49'905'000 (71,2) 54'875'000 (58,9)55'218'000 (46,4)
41'165'000 51'942'00070'091'000 93'166'000119'002'000
Es ist also nicht von einer generellen Entleerung des ländlichen Raums zu sprechen, sondern eher von einer Dekonzentration, da die insgesamt von Nicht-Ureinwohneren besiedelte Fläche im betrachteten Zeitraum durch Erkundungen und Erschliessungen beträchtlich vergrössert wurde.

Die Wirtschaft Brasiliens war bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 im wesentlichen exportabhängig, wobei die Entwicklung von mehreren Booms bestimmter Exportbranchen getragen wurde, die dann jeweils mit dem Rückgang der Nachfrage auf dem Weltmarkt bzw. mit dem Preisverfall in eine Regression mündeten. Mit der Machtübernahme von Präsident Vargas als Diktator im Jahr 1930 wurde dann "in Brasilien zum ersten Mal ernsthaft und kontinuierlich versucht, eine derartige 'autozentrierte' Entwicklung einzuleiten" (Wöhlcke, 1987, S. 33f.). Dabei wurde die Substitution von Importen betrieben, um externe Abhängigkeiten zu verhindern. Als sich die innengeleitete Entwicklung aufgrund einer Exportkrise und des Mangels an Devisen nicht mehr aufrechterhalten liess, wurde der Markt 1955 für ausländisches Kapital geöffnet, so dass eine sehr dynamische, aber abhängige Industrialisierung einsetzte, die auch den Bundesstaat Paraná erfasste.

Die Schwankungen der Handelspolitik der Bundesregierung bezüglich Kaffee und die Fröste sowie der Brand von 1963 bewirkten eine "Abkühlung" der kaffeebezogenen Aktivitäten im Bundesstaat Paraná, während mit der Einführung der grossen Sojaplantagen und der Mechanisierung und Modernisierung der Landwirtschaft allgemein die Produktionsverhältnisse auf dem Land nachhaltig verändert wurden. Durch die Einführung von kapitalistischen Produktionsstrukturen im ländlichen Raum und die damit verbundene einseitige Bevorzugung der Landeigentümer ergab sich der "êxodo rural" (Landflucht), der als notwendiges Übel angesehen wurde, das mit der sozialen Aufteilung der Arbeit und der Konfiguration der Produktion im urbanene Raum einherging. Im Norden von Paraná ergab sich eine Reduktion der ländlichen Bevölkerung um 45% (Rosa 1991).

Die urbane Politik des stark zentralisierten "Estado Novo" (neuer Staat) beschränkte sich dabei noch auf die notfallartige Korrektur von Problemen. Für Arbeiter gab es zwar soziale Rechte, aber keine politischen. Der Regierung ging es nicht darum, Forderungen nachzukommen, sondern massgeblich war ein "nationalistisches Verlangen, ein industrielles, modernes und souveränes Land aufzubauen - 'ohne soziale Ungleichheiten'" (Menezes, 1996, S. 29). Dennoch war es Anfang der sechziger Jahre nicht mehr möglich, die sozialen Ungleichheiten zu verschleiern.

Als 1964 die bis 1985 währende Militärdiktatur ihren Anfang nahm, wurde der sozialpolitische Gehalt der urbanen Politik weiterhin ignoriert und die Betonung lag auf der Umsetzung von technisch-rationalistischen Prinzipien. Die Idee des Plans fand in diesem Zusammenhang weitgehende Unterstützung von der Zentralregierung. Sowohl die Tatsache, dass im Jahr 1964 Wohnprogramme und -institutionen auf nationaler Ebene lanciert wurden, als auch die Kürzung der Beteiligung der Gemeinden am gesamten Steueraufkommen in der Verwaltungsreform 1967 auf 4% demonstrieren den Glauben an die Fortschrittlichkeit einer starken, zentralen Verwaltung.

Im Gefolge des "1. nationalen Entwicklungsplans" ereignete sich Anang der siebziger Jahre das "milagre brasileiro" (das brasilianische Wunder). Dieser Wachstumsboom war aber abhängig und "nutzte vor allem den Reichen, schlug sich in steigender Inflation und zunehmender Auslandsverschuldung nieder und führte direkt in die Rezession, ..." (Wöhlcke, 1987, S. 39). Die sozialen Probleme wurden, ebenso wie die ökologischen, weiterhin als irrelevant angesehen. Die Stadt wurde als relevanter Aspekt des ökonomischen Prozesses angesehen, Stadtplanung war Wegbereitung für die Industrialisierung, Synonym für Entwicklung und Modernisierung. Die sozialen Bedürftigkeiten spitzten sich zu für die grosse Masse, die 1970 schon zu 26,1% in Städten mit mehr als 500'000 Einwohnern angesiedelt war. (Menezes 1996)

Im Jahr 1973 wurden von der Bundesregierung die metropolitanen Regionen geschaffen, die die Koordination der Interessen zwischen den Stadtverwaltungen und den angrenzenden Gemeinden bezüglich ökonomischer und sozialer Infrastruktur verbessern sollten. Um die Legitimität des Regime vor der internen öffentlichen Meinung und der Glaub- /Kreditwürdigkeit vor den internationalen Gläubigern zu sichern, fand später eine Lokalisierung und Kontrolle der verschmutzenden Industrien statt, um die schlimmsten negativen Effekte zu vermindern. Mit dem gleichen Ziel wurde 1979 auch der Nationale Rat der urbanen Entwicklung (CNDU) gegründet, der die operationelle Basis der Investitionen im sozialen Bereich verbreitern sollte. (Menezes, 1996, S. 41)

In der brasilianischen Gesellschaft gab es einen Konsens, dass sich die Regierung erschöpft habe und die Bekämpfung der Armut sowie die demokratischen Kräfte, die sich in der einzig zugelassenen Oppositionspartei MDB (demokratische Bewegung Brasiliens) sammelten, gewannen an Bedeutung. 1979 brachte die Rückkehr exilierter politischer Führer aus Europa und die Aufhebung der Pressezensur eine Befruchtung des politischen Lebens. Fordernde Bürgerbewegungen, die in den periphären Gebieten der Grossstädte ihren Ursprung hatten, stellten die Widersprüche eines Staates blos, der historisch bedingt dazu tendierte, das Grosskapital zu bevorzugen. Die Invasionen in brachliegende Territorien stellten also gewissermassen eine Form der Anklage der Kontrolle des Grundeigentums im städtischen Raum durch bestimmte ökonomische Gruppierungen dar.

zum Inhaltsverzeichnis

3. Besonderheiten der Planung in Curitiba (1965-80)

3.1. Voraussetzungen einer effizienten Implementierung

Gewissermassen als vorweggenommene Erklärung für die effiziente und entschiedene Lancierung der stadtplanerischen Projekte, die Curitiba zu der Modellstadt gemacht haben, die sie heute für viele ist, sollen hier noch die inneren Rahmenbedingungen und Voraussetzungen beschrieben werden, die als typisch für die Entwicklung von Curitiba gelten (Frey 1996,Rabinovitch 1992 und Menezes 1996). Dieses Vorhaben führt in die Zeit des Militärstreichs von 1965 zurück, als mit Hilfe der am Ende von Kapitel 1.2 erwähnten Gruppe von Architekten die Stadtregierung ein Seminar veranstaltete, das unter dem Namen "Curitiba de Amanhã" (Curitiba von Morgen) in den technischen, kulturellen und administrativen Bereichen die Notwendigkeit einer neuen Gesamtplanung etabliert wurde. Hier wurde unter Einbezug der Öffentlichkeit der ebenfalls 1965 fertiggestellte Plano Preliminar (vorläufiger Gesamtplan) diskutiert, der aus einem öffentlich ausgeschriebenen Wettbewerb resultiert hatte. Im Verlauf des Seminars liess sich auch der damalige Bürgermeister von der Wichtigkeit einer neuen Planung überzeugen. Dies resultierte am letzten Tag des Seminars in der Bekanntgabe der Gründung eines beratenden Organs für städtische Planung und Forschung, welches noch im gleichen Jahr per Gesetz zum IPPUC (Institut für städtische Planung und Forschung von Curitiba) wurde.

Das IPPUC, das in der oben erwähnten Gruppe um Jaime Lerner seinen generierenden Kern hatte, nahm eine Sonderstellung in der Verwaltungsstruktur von Curitiba ein. Es war, nach Fernandes (1979) gemäss einer damaligen Mode, als autarkes Organ konzipiert, das, mit finanzieller und administrativer Autonomie ausgestattet, sich ohne Einschränkung um externe Mittel bewerben konnte und eine exklusive Kompetenz für urbane Forschung und Planung besass. Im Jahr darauf wurde der Plano Diretor (Gesamtplan), der auf dem Plano Preliminar beruhte, per Gesetz beschlossen. Menezes (1996, S. 83) kommentiert: "In dieser Tatsache zeigt sich die Einmaligkeit des Falles Curitiba: Zuerst wurde das verantwortliche Organ für die Ausführung des Plano Diretor geschaffen und danach wurde offiziell der Plan eingesetzt".

Wegen eines Kompetenzstreits mit dem öffentlich-privaten Mischunternehmen URBS (Kompanie für Urbanisation und Sanierung von Curitiba), dessen Präsident der Meinung war, dass die Implementierung des Plans seiner Institution zukäme und während sich der Bürgermeister auf die Einführung von Mülldeponien, die Errichtung des zentralen Strassenrings und die Asphaltierung einiger wichtiger Zufahrtsstrassen konzentrierte, beschränkte sich das IPPUC zuerst auf Forschungsaufgaben und die Ausarbeitung und Detaillierung weiterer Projekte wie Strassenplan, Zonierungsgesetz, Bodennutzungsgesetz, Pläne für den Massentransport, Plan für die Revitalisierung des historischen Sektors, Wohnungspolitik, Schutzpolitik für hydrografische Becken (Talböden) sowie einer Erziehungspolitik.

Jaime Lerner, der im Jahr 1969 als Präsident des IPPUC nach einem Jahr zurückgetreten war, weil der Bürgermeister ein Projekt nicht bewilligt hatte, verfügte bei seiner Ernennung zum Bürgermeister durch den Gouverneur des Staates Paraná im Jahr 1971 also über eine Palette von fertigen Konzepten und Plänen, die auf ihre Umsetzung warteten. Dass Lerner bei seinem Amtsantritt keiner Partei angehörte, war kein Zufall, da von der Militärregierung keine Politiker, sondern eher Techniker an der Spitze der Stadtregierungen erwünscht waren.

zum Inhaltsverzeichnis

3.2. Die Entwicklung der strukturellen Achsen mit den Buslinien und der Fussgängerzone im Zentrum

Das "Schlüsselkonzept" (Rabinovitch 1992) in Bezug auf die Strukturierung des städtischen Raumes war die Einrichtung von Verkehrsachsen, an denen entlang sich die Raumnutzung in Form von überbauung und Dienstleistungen konzentrieren sollten, um so eine überlastung des Zentrums zu vermeiden. Dieses Konzept stammte aus dem oben erwähnten Plano Preliminar von 1965. Es visierte die Implantation einer Nord-, einer Süd-, einer Ost- und einer West-Achse an. Das Konzept wurde später um eine fünfte radiale Achse erweitert.

Abbildung 3: Die Entwicklung der Buslinien 1974-91 (IPPUC)

Die Achsen bestehen jeweils aus drei parallelen Strassen, wobei die mittlere von den Schnellbuslinien und zwei Spuren Langsamverkehr gebildet wird. Beidseitig führen Einbahnstrassen im Abstand von einem Bebauungsblock in die Innenstadt hinein bzw. in Richtung Peripherie. Diese strukturellen Achsen bilden gewissermassen das Rückgrat des Verkehrssystems und damit der Stadtentwicklung überhaupt.

Die Entlastung des Zentrums wurde in der ersten Regierungsperiode Lerners durch die Einrichtung der ersten umfassenden Fussgängerzone Brasiliens (Menezes 1996) betont. Die ersten zwei Schnellbuslinien wurden 1970 in Betrieb genommen. 1980 bestand dann schon das "integrale öffentliche Verkehrsnetz", in dem man an 5 Terminalen umsteigen konnte, ohne einen zweiten Fahrpreis zu bezahlen. 1991 wurden die "tubulares", die röhrenförmigen Haltestellen eingeführt, die die Zeiten für Zu- und Aussteigen verkürzen, weil sie zum Einen die Funktion des Kassierens übernehmen, das sonst beim Einsteigen stattfindet, und zum Anderen den Ein- und Ausstieg über drei Türen ermöglichen.

Ein wichtiger Aspekt des öffentlichen Verkehrsnetzes ist die Verknüpfung mit einer Bebauungsgesetzgebung. Die erlaubte Geschossflächenzahl ist an den strukturellen Achsen am grössten und nimmt mit dem Abstand zum öffentlichen Verkehr ab, so dass eine gezielte Verdichtung erreicht wurde. Um intensiven öffentlichen Wohnungsbau durch die Wohnbaugesellschaft COHAB entlang der Achsen zu ermöglichen, wurde von der Stadt schon vor der Einrichtung der strukturellen Achsen Land in deren unmittelbarerer Umgebung erworben (Rabinovitch and Leitmann 1993).

Abbildung 4: Blick auf eine der Strukturachsen (IPPUC)

Als Resultat der innovativen Gestaltung des öffentlichen Verkehrssystems benutzen es heute 75% der Pendler beim Weg von und zur Arbeit. In São Paulo und Rio de Janeiro liegen die entsprechenden Benutzungsraten bei 45%, bzw. 57%. Die Studie des Urban Management Programmes der UNO (UMP) spart nicht mit Lob: "Curitibas System des öffentlichen Verkehrs ist die direkte Ursache dafür, dass Curitiba eine der geringsten Raten der Luftverschmutzung in Brasilien hat" (Rabinovitch and Leitmann 1993, S. 29).

zum Inhaltsverzeichnis

3.3. Die Verknüpfung der Hochwasserproblematik mit der Bereitstellung von Grünraum

Für die Stadtentwicklung in Curitiba hat auch die Lösung der Hochwasserprobleme und die grosszügige Anlage von Freizeit- und Erholungsparks eine wichtige Rolle gespielt. Anfang der siebziger Jahre verfügte die Stadt nur über weniger als einen Quadratmeter Grünraum pro Einwohner und der zentrale Bereich wurde regelmässig überschwemmt.

Durch das Ausweisen von Überschwemmungszonen, in denen die Überbauung verboten war, das Anlegen von künstlichen Seen als Auffangbecken für die Regenfluten und die Einrichtung von zum Teil riesigen Parks (der Parque Iguaçu ist mit seinen über 800 ha der grösste urbane Park in Brasilien) wurde nach und nach ein beeindruckendes Netz von Erholungsflächen geschaffen, das inzwischen durch über 85 km Radwege, zum Teil auch an den bepflanzten Überschwemmungsschutzgebieten entlang der Flüsse, zusätzlich aufgewertet wurde (Curitiba 1994).

Abbildung 5: Grünraum und Hochwasserschutz (IPPUC)

Im Hinblick auf die in Kapitel 3 behandelte Problematik der Favelas muss bemerkt werden, dass die überschwemmungsgefährdeten Talgründe oft von Zuwanderern als Wohnort gewählt wurden, da in diesen Gebieten, die zum Teil schon in Hinblick auf die Einrichtung von Parks enteignet oder noch im Rechtsstreit befindlich waren, keine Infrastruktur vorhanden war. Dadurch war auch die Immobilienspekulation noch nicht an diese Orte vorgedrungen und die Barackensiedlungen konnten sich relativ gut halten. Zur Lösung dieser Problematik wird noch Stellung genommen

Zum Image des "capital ecologica" (ökologische Hauptstadt) haben auch die grossangelegten Pflanzaktionen von Bäumen beigetragen. Allein im Jahr 1974 wurden in der Stadt 60'000 Bäume gepflanzt, davor waren es im Mittel etwa 3'000 pro Jahr. Als Standort für die Bäume dienten auf der einen Seite Strassenränder von neu angelegten Strassen, auf der anderen Seite die überschwemmungsgefährdeten Streifen entlang von Flüssen und hydrogeographische Becken. Nach der Studie des Urban Management Programme der UNO wurden 50 % des gesamten Strassennetzes mit Pflanzaktionen von 200'000 Bäumen entlang etwa 1000 km Strasse abgedeckt (Rabinovitch and Leitmann 1993).

zum Inhaltsverzeichnis

3.4. Andere Elemente der Stadtplanung

Ein wichtiges Element der Stadtplanung in Curitiba ist die 1973 gegründete "cidade industrial" (Industriestadt). Zu einer Zeit, in der viele Städte Brasiliens der internationalen Industrie die Möglichkeit zur Ansiedelung verschmutzender Fabriken boten, war sie "von Anfang an entworfen, um Unternehmen anzuziehen, die limitierte Auswirkungen auf die Umwelt haben" (Rabinovitch 1993).

Besonderer Wert wurde auch auf die Erhaltung und Nutzung historischer Gebäude der Innenstadt gelegt. Lerner meinte dazu: "Die Erinnerung ist der Anker unserer Identität. Und eine Bevölkerung, die sich nicht mit ihrer Stadt identifiziert ist eine unglückliche Bevölkerung. Identität ist eine sehr wichtige Komponente der Lebensqualität. [...] Manchmal hat ein Gebäude nicht historischen Wert, sondern der Wert liegt in demjenigen, den es für die Stadt von unserem Standpunkt aus gehabt hat." (Lerner 1993, zitiert nach Menezes 1996, S. 96). In Zusammenhang mit der Fussgängerzone ergaben sich durch diesen Ansatz viele beliebte Treffpunkte im Zentrum der Stadt.

zum Inhaltsverzeichnis

3.5. Curitiba als "moderne Stadt"

Nimmt man die in diesem Kapitel aufgeführten Planungsansätze zusammen, so ergibt sich Anfang der 80er Jahre ein schlüssiges Bild einer Stadt, die die Ideale der Moderne aufgreift und konsequent verwirklicht. So wird der durchschnittliche Curitibaner in seinen Tätigkeiten Wohnen, Arbeiten, Erholen, sich Bilden, Einkaufen, Entsorgen, Verkehr und Kommunikation erfasst und in der Ausübung dieser Funktionen unterstützt. Dabei fällt die räumliche Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Erholen, sich Bilden, Einkaufen (verändert nach Schmid 1994) und die Erschaffung entsprechender Räume wie der Wohnungsblöcke, der Industriestadt, der Parks, des Bildungszentrums und der Einkaufszentren auf. In einer solchen urbanen Agglomeration, die nach dem Prinzip des Fliessbandes organisiert ist, kann man nach Hitz, Schmid und Wolff (1992) den typischen räumlichen Ausdruck des fordistisch-keynesianischen Akkumulationsregimes erkennen, das für die Moderne bis in die 70er Jahre kennzeichnend ist. Bezeichnend ist hier, dass das effiziente und preiswerte Verkehrssystem den Schlüssel zu der relativ gelungenen Entwicklung von Curitiba darzustellen scheint, so dass die Verbindung der räumlich getrennten Zonen gewährleistet ist. Die andere menschliche Funktion, die mit zunehmender räumlicher Entmischung der menschlichen Tätigkeiten an Bedeutung gewinnt, die Kommunikation, wird im fünften Kapitel genauer angesehen.

Vorerst soll aber die für eine moderne Stadt in einem Entwicklungsland typische Bildung von notdürftigen Ansiedlungen entwurzelter Stadt- und Landbewohner beleuchtet werden.

zum Inhaltsverzeichnis

4. Entwicklung in der Peripherie: Bildung von Favelas und Selbstorganisation der Bewohner

4.1. Entstehung und Charakterisierung der Stadtrandsiedlungen

Wie im Kapitel 1.5. anhand der Urbanisierungstendenz in Brasilien gezeigt wurde, ist das explosionsartige Wachstum von Curitiba in Brasilien keine Ausnahme, wengleich die Stadt mit Verdoppelungszeiten von wenig mehr als 10 Jahren auch im innerbrasilianischen Vergleich hervorstach. Als Erklärung für dieses Phänomen werden von den hier verwendenten Autoren vor allem die "kapitalistischen Verhältnisse" (Menezes, 1996, S. 24) angeführt, die im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Mechanisierung der Landwirtschaft im ländlichen Raum Einzug nahmen. Spezifisch für Paraná ist die Tatsache, dass mit der starken Ausweitung der Kaffeekulturen in den 50er Jahren grosse Scharen von Arbeitern aus anderen Staaten einwanderten, die mit der "Abkühlung" des Kaffee-Booms aufgrund von Preisentwicklung, Frösten und der Einführung von grossen Sojaplantagen freigesetzt wurden.

Zur Erklärung der Gesamtentwicklung ist aber auch das erhöhte Bevölkerungswachstum gerade der armen städtischen und ländlichen Schichten ein notwendiger Erklärungsfaktor. Auch bei einer gleichbleibenden ländlichen Bevölkerungszahl wäre ein Wachstum der Städte vor diesem Hintergrund unvermeidlich gewesen. Die Bedeutung des Bevölkerungswachstums für die Probleme der auch ökologisch brisanten Verelendung der Stadtränder kann also kaum hoch genug eingeschätzt werden.

Schliesslich müssen auch die Pull-Faktoren der zur Stadt gewandten Migration berücksichtigt werden. Die Kenntnisse und Vorstellungen von den persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten in der Stadt bezüglich Erwerbstätigkeit, Bildung und Lebensstil dringen über Erzählungen und vor allem auch über die Massenmedien praktisch überall hin, wo Menschen wohnen. Die harte Realität des städtischen Überlebens für einen Zuwanderer ohne Beziehungen und ohne Ausbildung findet zumindest im von der Stilisierung des luxuriösen und konsumorientierten Lebens der vorwiegend weissen Oberschicht dominierten Fernsehen wenig Beachtung.

Für die Entstehung der Favelas in Curitiba kann als Beispielfall die Region "Baixo Boqueirão" im Süden des Zentrums angesehen werden, für die im Plano Preliminar und im auf diesen basierenden Plano Diretor als für die Bebauung ungeeignetes Gebiet keine Erschliessung vorgesehen war. Im Hinblick auf die Einrichtung des "Parque Iguaçu" im Jahr 1979 erwarb die öffentliche Hand zwar schon Grundstücke im Enteignungsprozess, aber aufgrund der Lage im Gebiet der Mündung der drei grössten Zuflüsse des Rio Iguaçu und den damit verbundenen regelmässigen Überschwemmungen wurden diese Territorien mit keiner "urbanen Infrastruktur" versehen und blieben auch von der Immobilienspekulation unberührt, die in den strukturell bevorzugten Gebieten die Preise in die Höhe trieb. Diese Preiserhöhung in zentralen Bereichen war auch dafür verantwortlich, dass das endogene Potential für die Besiedelung der sogenannten "loteamentos clandestinos" (illegalen Grundstückseinteilungen) anwuchs. Rosa (1991) berichtet, dass sich von den anfänglichen Bewohnern der von ihr untersuchten Gebiete etwa die Hälfte aus der städtischen Unterschicht rekrutierte, weil sie durch die Entwertung der Löhne nicht mehr in der Lage waren, ihre Mieten zu bezahlen.

Wie schon in Kapitel 2.2. erwähnt, wurden die Favelas bis Ende der 70er Jahre als ansteckende Krankheit angesehen, die es mit Mitteln polizeilicher Repression zu verhindern galt. "Was die Stadtregierung unernahm, um sich dieses Problems zu entledigen, bestand darin, Familien auf einen Lastwagen zu bringen und sie in ihre Herkunftsgebiete zurückzubringen, in die ländliche Zone, in andere Gemeinden ausser Curitiba." (Menezes, 1996, S. 113 f.). Zum Teil fielen die neu zugezogenen Siedler auch betrügerischen Machenschaften zum Opfer, indem sie mit ihren gesamten verfügbaren Ersparnissen Grundstücke kauften, die dem "Verkäufer" nicht gehörten. In den siebziger Jahren wurde im Rahmen einer Politik der "desfavelização" versucht, die betroffenen Familien in Wohnanlagen zu relokalisieren, die allerdings durch ihre isolierte Lage auch nicht an die städtische Infrastruktur angeschlossen waren. Ein Wachstum der Bevölkerung der Favelas um 65% zwischen 1974 und 1978 (Leão und Silva 1991, S. 1, zitiert nach Menezes, 1996, S. 115) überforderte diesen Ansatz jedoch, so dass die Favelas sich als bis heute unvermeidliche Komponente des Stadtbildes etablierten.

Die Baracken in den Favelas, deren Anzahl 1979 etwa 6'000 betrug (IPPUC 1991, S. 51, zitiert nach Menezes, 1996, S. 115), waren aus allen nur denkbaren Materialien konstruiert wie Blech, Holz, Plastik, die keine geeigneten Wohnbedingungen für die dort hausenden Familien boten: "... es war eine sehr schwierige Situation und es gab Leute, die lebten viel schlechter als Tiere." (Erinnerung eines Favelabewohners, aus (Rosa, 1991, S. 40). Oft beschränkten sich die Favelas auch nur auf freigelassene Randstreifen von Gräben und Wasserläufen. Durch die Positionierung in Überschwemmungsgebieten wurden sie zum Teil zu regelrechten Sümpfen.

Während die ersten Favelas noch etwa zu gleichen Teilen von Menschen aus der Stadt selbst und aus ländlichen Gebieten bevölkert wurden, verschob sich diese Relation später zugunsten der Zuwanderer, die vor allem von den Kaffeeplantagen im Norden des Staates freigesetzt wurden. Aufgrund der schlechten Ausbildung gingen die meisten einer Tätigkeit im Dienstleistungsbereich nach und konnten nicht von der Ausweitung des Arbeitsmarktes ab 1973 durch die Cidade Industrial de Curitiba (Industriestadt) profitieren, da dort Facharbeiter mit Qualifikationen gebraucht wurden, die im Staat Paraná kaum zu finden waren (Rosa, 1991).

zum Inhaltsverzeichnis

4.2. Entstehung, Struktur und Zweck der "Associações de Moradores"

Die Idee, eine "Associação de Moradores" (Verein der Bewohner, im Weiteren als Associação bezeichnet) zu gründen, ergab sich im Zusammenhang der Auseinandersetzung der Bewohner der Favela-Siedlung "Vila Formosa" mit einem angeblichen Grundbesitzer im Jahr 1976, als diese Siedlung aus 117 Baracken (Zählung durch die Bewohner selbst (Rosa 1991, S. 66)) bestand. Da die Gegend unter Unterstützung der Militärpolizei mit Stacheldraht abgesperrt wurde und von den Abgeordneten des Stadtparlaments, die um Unterstützung gebeten worden waren, keine Hilfe kam, rissen die Bewohner den Stacheldraht in gemeinsamen nächtlichen Aktionen wieder ein, und dies jedesmal, wenn er wieder neu angebracht wurde. Als es den Bewohnern gelang, den Wiederaufbau des Stacheldrahtes durch mehrere Abgeordnete und Journalisten bezeugen zu lassen, machte einer der Journalisten den Vorschlag, einen Verein, eine Associão de Moradores zu gründen. Da es an Kenntnissen über die Gründung und das Wesen von Vereinen fehlte, dauerte es, bis sich ein Rechtsanwalt von der Sache überzeugen liess und den nötigen juristischen Beistand leistete, um die erste Associão de Moradores am 12. November 1978 Wirklichkeit werden zu lassen.

Nachdem sich der Streit um den Stacheldraht einen Monat lang abgespielt hatte, gelang es den Bewohnern, den angeblichen Grundbesitzer einzuschüchtern und davon abzubringen, den Stacheldraht zu erneuern. Dieser Erfolg und die Tatsache, dass die Bewohner der Vila Formosa durch ihren Kontakt zu dem Rechtsanwalt erfuhren, dass das Territorium, welches sie bewohnten, im Rechtsstreit befindlich war, ermunterte die Bewohner anderer besetzter oder einfach nur unerschlossener Gebiete, sich mit Hilfe des gleichen Rechtsanwaltes ebenfalls in solchen Vereinen zu organisieren.

Es bildete sich in der Folge der "Movimento de Associões de Moradores e Amigos de Bairros de Curitiba" (Bewegung der Vereine der Bewohner und Freunde der Stadtviertel), der sich durch die spontane Entstehungsweise sowie die ideelle und finanzielle Unabhängigkeit von politischen Parteien, Kirchen oder Gewerkschaften auszeichnete.

Die Associaçoes weisen die Struktur eines eingetragenen Vereins auf mit regelmässigen, offenen Generalversammlungen in einem oft notdürftig konstruierten Vereinssitz oder in der Baracke eines der aktiven Mitglieder, mit Statuten, in denen die Abstinenz von religiösen, politischen oder parteibezogenen Tätigkeiten festgeschrieben war und mit Ausschüssen, die zu verschiedenen Zwecken gegründet wurden. Entscheidend war auch die Rolle der "Amigos de Bairro", die sich aus sympathisierenden intellektuellen Kreisen rekrutierten und die vor allem bezüglich Organisation und Kontakt zur Presse beratend tätig waren und zum Teil auch durch Bereitstellen von Fahrzeugen oder ihrer Büros mit Telefon Hilfe leisteten.

Neben einem "Rat der Siedler" und einem Vorstand gab es auch einen Aufsichtsrat, der sich um den Einzug und die Verwaltung der finanziellen Beiträge kümmerte. Wer regelmässig einen solchen Beitrag in Höhe von bis zu 1% des gesetzlichen Mindestlohns leistete, wurde Teilhaber, was allerdings auf das Stimmrecht keine Auswirkung hatte.

Die Zweckbestimmungen in den Statuten umfassten folgende Inhalte:

Wegen der Vordringlichkeit der Forderungen der Associações nach Wohnraum und grundlegender Infrastruktur wie Strassen, Trinkwasser, Elektrizität und Kanalisation ergaben sich grössere Schwierigkeiten bei der Erfüllung der letzten beiden Zweckbestimmungen (Rosa, 1991, S. 82). Die wichtigsten Tätigkeiten der Associações waren also die genannten Forderungen an die Stadtverwaltung und die Lenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die untragbaren Wohnbedingungen in den entsprechenden Siedlungen. Dabei war es ihnen von Anfang an wichtig, dass sie nicht umgesiedelt werden wollten, sondern die "Urbanisation" der bereits bewohnten Gebiete anstrebten.

Die Bewegung der Associações und Amigos de Bairros hatte als gemeinsames Organ der Koordination und Repräsentation den "Rat der Repräsentanten". Er tagte im Rotationsprinzip in den Siedlungen der Mitgliedsvereine und spielte für die Mobilisation von Widerstand gegen die "Repression und Willkür" (Rosa, 1991), die von der Stadtverwaltung ausgeübt wurde und für die Artikulation der Interessen der Bewegung eine wichtig Rolle. Das Aufgabengebiet dieses Rates erstreckte sich von der Gründung neuer Vereine, dem Bau von Vereinssitzen, der Planung von Aufräum- und Reinigungsaktionen sowie von der Erstellung von Entwässerungsgräben bis zu der Pflege von Kontakten zu Abgeordneten des Stadtparlaments und der Beteiligung an den rechtlichen Streitigkeiten bezüglich des Grundeigentums der besiedelten Gebiete.

zum Inhaltsverzeichnis

4.3. Forderungen der Associações de Moradores und deren Präsentation

Am Anfang der Associações stand der Wille, die einmal in Beschlag genommenen Gebiete und die darauf gebauten Baracken nicht verlassen zu müssen. Für die meisten der Bewohner gab es zu den Besetzungen von ungenutzten, unerschlossenen und oft problembeladenen Flächen keine Alternative, da sie über keine ausreichenden finanziellen Mittel verfügten bzw. ihre Ersparnisse beim Erwerb dieser illegal vermarkteten Grundstücke eingesetzt hatten. Daneben waren die erwerbstätigen Bewohner von der Nähe zu ihrer Arbeitsstelle im städtischen Raum abhängig.

Eine weiteres wichtiges Anliegen war die Ausführung von Verbesserungs- und Erweiterungsarbeiten an den bestehenden Behausungen. Solche Arbeiten wurden von Kontrolleuren im Auftrag der Stadtverwaltung im Kontext der Politik der "desfavelização" noch bis 1979 verhindert.

Eine öffentliche Präsentation der Associações von sich selbst und ihren Interessen fand zum ersten Mal am sogenannten "Dia da Unidade" (Tag der Einheit) am 8. Juli 1979 unter Beteiligung von ca. 2000 Bewohnern der bis dahin etwa 20 Associações und mit Anwesenheit des Bürgermeisters Jaime Lerner statt, der gerade seine zweite Amtsperiode (1979 - 1982) angetreten hatte. Zu diesem Zeitpunkt ging es zum einen darum, die Gewalt und Willkür, die "Delokalisierungen" und Zerstörungen der Baracken, die von der Stadtverwaltung ausgingen, anzuklagen und gegen die Abriegelung der Wohnungs- und Planungspolitik gegenüber den Bewohnern zu protestieren, zum anderen wurden sofortige Verbesserungen der Zustände in den Favelas bezüglich ihrer Infrastruktur und Versorgung gefordert.

Die Antwort von Jaime Lerner, der die Associações bis dahin nicht gekannt hatte, umfasste die Bekanntgabe der Gründung eines Departements für soziale Entwicklung, das innerhalb von 15 bis 20 Tagen eine Erhebung der Zustände in den betreffenden Gebieten leisten sollte, das Versprechen, die zukünftigen Kontrollen ohne Polizeiunterstützung durchführen zu lassen, und die Zusage, dass nur die Favelas, die sich in hygienisch bedenklichen Gegenden angesiedelt hatten, umzusiedeln. Er betonte, dass es für die Stadtregierung schwierig sei, die Probleme vom Land zu lösen, in dem sie sich um die Flüchtlinge von dort kümmere. Er bat auch die Bewohner, die Neuankommenden dazu zu bewegen, nicht in der Stadt zu bleiben. Schliesslich wollte er innerhalb von 45 Tagen die offizielle Politik bezüglich der Favelas bekanntgeben.

Dies erfolgte erst mit der Bekanntgabe der "Carta da Favela" am 31. März 1980, also über 250 Tage später. Die Stadtverwaltung gab zu erkennen, dass sie die Urbanisation der Favelas auf öffentlichem Grund bereits betreibe, "soweit die Gelände für die Gesundheit vorteilhafte Bedingungen aufzeigen würden." (Carta da Favela, zitiert nach Rosa, 1991, S. 50). Die Favelas in "ungesunden" Gebieten würden die Möglichkeit erhalten, eine Wohneinheit der COHAB zu erwerben. Die Favelas auf privaten Grundstücken sollten nach Verhandlungen der Stadt mit den Eigentümern entweder urbanisiert werden oder es sollten Ersatzflächen bereitgestellt werden, die die Integration der Bewohner in die Stadt ermöglichen würden.

Insgesamt übernahm die Stadtverwaltung die Probleme der Bewohner der Favelas, und versprach ihnen die Verbesserung der Lebensqualität, wobei sie von der Einrichtung von 10 Kindergärten, der Urbanisation von einigen Favelas durch Trinkwasser- und Elektrizitätsnetz, dem Angebot von Sozialwohnungen bis zu der Legalisation der Grundstücke verschiedene Anstrengungen unternahm, die Not zu lindern.

Die "Carta da Favela" wurde von der Bewegung der Associações später abgelehnt, da sie die Gesamtheit der Favelabewohner aufspalte und nur für einen Teil wirkliche Lösungen anbiete. In dem Wechsel der offiziellen Politik von der Strategie der Umsiedelung in abgelegene Gebiete in der Peripherie zu Strategie der "Urbanisierung" der Favelas durch die Anbindung an die öffentlichen Ver- und Entsorgungsnetze lag jedoch ein bedeutender Fortschritt.

zum Inhaltsverzeichnis

4.4. Selbsthilfeaktionen und das Urbanisierungsprojekt der Associações

Da die Reaktionen und Projekte der Stadtverwaltung nicht mit dem Wachstum der Favelabevölkerung mithalten konnten und die Associações sich gegen die Übernahme der Kontrolle über ihre Urbanisation sträubten, wurden im Zuge von Selbsthilfeaktionen Häuser verbessert, Zäune gebaut, Zugangsstrassen geräumt, Grundstücke vermessen und Entwässerungsgräben ausgehoben. "Die Bewohner konnten nicht auf die Realisierung der Urbanisierung durch die Stadtverwaltung warten, deshalb formulierten sie ihr eigenes Urbanisierungsprojekt und führten es aus" (Rosa, 1991, S. 132f.)

Die Urbanisierungsaktionen, die sich meist auf Sonn- und Feiertage beschränkten, liefen dabei etwa nach dem folgenden Schema ab: (Rosa, 1991, S. 111)

Auf diese Weise wurde eine Dekonzentration der Siedlungen erzielt und gleichzeitig eine gerechte Aufteilung des verfügbaren Platzes. Die Neubesetzungen erfolgten oft unter der Mitwirkung von allen Bewohnern einer Favela, da es darauf ankam, innerhalb von einem Tag Baracken mit Überdachung herzustellen, in denen die neuen Bewohner übernachten konnten, damit die halbfertigen Baracken nicht von der Polizei beschlagnahmt würden (Rosa, 1991, S. 105).

4.5. Das Verhältnis der öffentlichen Hand zu den Associações und deren Bemühungen um die Frage der Favelas

Der Beschreibung des Verhältnisses der Stadtregierung zu den Bewohnervereinen ist voranzuschicken, dass dieses Verhältnis aus der Sicht der Associações, wie sie bei Rosa (1991) eingenommen wird, anders beschrieben wird als aus der Sicht der Stadt selbst, wie sie zum Beispiel aus der "Carta da Favela" hervorgeht. Hierbei ist von einer Bewertung noch gar nicht die Rede. Auf diese Widersprüchlichkeiten kann hier im einzelnen nicht eingegangen werden. Es wurde also versucht, die "goldene Mitte" aus Eigenlob und feindbildgeprägter Anklage aus den zur Verfügung stehenden Quellen zu extrahieren und möglichst wahrheitsgetreu darzustellen.

In der der Gründung der Bewohnervereine vorangegangenen Periode von 1974-79 war die Politik der Stadtregierung noch durch die Vertreibung und Aufhebung der Favelas mit Gewalt gekennzeichnet. Ein Zeuge bei Rosa (1991) berichtet, dass ganze Favelas vernichtet wurden, ja dass sogar Baracken angezündet wurden, in denen sich noch Menschen befanden. Mit der "abertura democratica", die 1979 ihren Anfang nahm, hatte diese Ausübung von Gewalt von der Seite der Stadtregierung ein Ende und die Existenz von Favelas wurde akzeptiert. Allerdings wurde nicht auf eine Kontrolle verzichtet, sondern die Polizisten wurden durch Sozialhelfer ersetzt, die ständig in den Favelas präsent waren, oft in den Sitzen der Vereine, und die Baracken wurden numeriert, um eine heimliche Vergrösserung der Favelas, wie sie dennoch ständig stattfand, zu verhindern. Die Associações sahen in dieser Kontrolle eine Bevormundung durch die Stadtverwaltung und entfernten die Nummern so oft wie möglich.

Die Volkszählung von 1980 zeigte, dass zu dieser Zeit über 78'000 Familien aus der Einkommensklasse bis zu drei Mindestlöhnen (pro Familie) Bedarf von Wohnraum hatten. Dagegen wurden in diesem Jahr von der COHAB 5'000 Wohneinheiten fertiggestellt. Dies zeigt das stetige Hinterherhinken der Stadtverwaltung hinter der tatsächlichen Entwicklung. Der Widerspruch zu dem nach aussen präsentierten, aktiven und vorausschauenden Planungsstil wurde in der "Carta da Favela" benannt, konnte aber in der Folge nicht behoben werden.

Gleichzeitig war der Wille, die Bewegung der Stadtteilsvereine zum Planungsprozess zuzulassen, gerade bei dieser Regierung nicht vorhanden. So schlug Lerner zum Beispiel die Gründung eines "Gemeinderates zur Verbesserung der Lebensqualität" mit Beteiligung von Stadträten, Pastoren, Mitgliedern von Rechts- und Friedenskomissionen und der Stadtverwaltung vor, verhinderte aber die Beteiligung von Mitgliedern des Rats der Repräsentanten der Bewegung der Associações.

Rosa kommt demzufolge zu dem Schluss:

" Die [zweite] Regierungsperiode von Lerner [1979-1982] hinterliess eine autoritäre Prägung bezüglich der Partizipation der Bürger in der Stadtverwaltung, besonders der sozialen Segmente, die organisiert und kämpferisch waren wie die Bewegung der Associações. Die Partizipation der Associações wurde durch Kampf und Organisation erreicht, wobei diese eine konstante Praxis des politischen Drucks entwickelten, die die Stadtverwaltung dazu zwang, ihre Forderungen und Vorschläge zu prüfen und zu respektieren, ..." (Rosa 1991, S. 56).

Menezes (1996, S. 119) betont auf der anderen Seite die Neuartigkeit der Strategie der Stadtverwaltung, die Urbanisation von Favelas im inneren Stadtbereich zuzulassen und sogar zu unterstützen, um eine Integration der Gebiete in die Stadt und den Anschluss an die städtischen Versorgungsnetze zu ermöglichen. Hierbei wurde eine Abmachung getroffen, dass die Stadt die Infrastruktur stelle, die Bewohner aber ihre Häuser selbst erstellten (im Gegensatz zu dem seit 1967 praktizierten Konzept des Sozialwohnungsbaus durch die COHAB), wobei sie auf die Hilfe von Studenten-Pratikanten der Architektur zählen konnten.

Hervorzuheben ist auch ein weiteres Projekt, das in dieser Zeit zur Lösung des Problems der Favelas vorgeschlagen wurde. Familien ländlicher Herkunft sollten in der Peripherie der Stadt angesiedelt werden, um dort den landwirtschaftlichen Tätigkeiten ihrer Herkunftsorte nachzugehen. Dieses Projekt wurde aber schliesslich nicht durchgeführt, da die geringe Grösse der angebotenen Grundstücke, die Vormundschaft der Stadtverwaltung, die ungenügende Anpassung der zugewanderten Bauern an das Produktionssystem sich als grosse Hindernisse herausstellten (Menezes, 1996).

Obwohl die Stadtverwaltung sich fortschrittlich gab, kam es also zu keiner wirklichen Lösung des Problems, deren zum grossen Teil externe Ursachen für konstante Nachlieferung von Verarmungspotential sorgten. Ebensowenig kam es aber zu einer wirklichen Zusammenarbeit zwischen der Stadtverwaltung und den Associações de Moradores und Amigos de Bairro von Curitiba, obwohl diese beiden Parteien durchaus durch eine gemeinsame Zielsetzung verbunden waren.

zum Inhaltsverzeichnis

5. Weitere Entwicklung der Stadtplanung

5.1. Die Zeit der Partei der demokratischen Bewegung

Die Zeit zwischen der zweiten und dritten Amtsperiode Jaime Lerners war stark durch die Demokratisierungstendenzen in der brasilianischen Politik gekennzeichnet, die sich in dieser Zeit landesweit abspielten und 1985 zum Ende der Militärdiktatur führte. Die damals herschenden Kreise schafften es nicht, die Redemokratisierung, die sie selbst angestrebt hatten, wie geplant unter Kontrolle zu halten (Wöhlcke, 1987). Aufgrund des grundsätzlich unterschiedlichen Verständnisses von dem Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung der neuen Regierungspartei PMDB (Partei der demokratischen Bewegung Brasiliens) wurde in den "Aktionsplan" von 1983 die Leitlinie aufgenommen: "die Partizipation von allen Segmenten der Population an der Verwaltung der Stadt zu begünstigen" (Pereira 1988). Es wurden in dieser Zeit z.B. erstmals öffentliche Anhörungen von Bürgern durchgeführt, der Bewegung der Associações ein Sitz im "Centro Communitario" zur Verfügung gestellt und das Rathaus von Curitiba war allgemein für die Bewegung der Associações geöffnet. Dennoch stellt Rosa (1991, S. 215) fest: "Die Erfolge der Bewegung der Associações mit der Realisierung der Versammlung von Tarumã bezüglich Organisation und Einheit der Bewegung, erhielten sich nicht bis zum Ende dieser Amtszeit, obwohl der Raum für die Mitbestimmung der Bürger erweitert wurde."

In der Zeit des Bürgermeisters Roberto Requião von 1986-1990 wurden die Kanäle der Partizipation weitgehend wieder geschlossen (Rosa, 1991), obwohl er der gleichen Partei angehörte wie sein Vorgänger und sogar am Anfang der Bewegung der Associações als Berater mitgewirkt hatte (siehe oben). Vermutlich ist in seinem politischen Erfolg ein Beispiel des für Brasilien so typischen Klientelismus zu sehen, bei dem eine Art von väterlichem Schutz, bzw. ein offenes Ohr für persönliche Anliegen gegen die politische Stimme getauscht wird (Frey, 1996).

zum Inhaltsverzeichnis

5.2. Die Zersplitterung der Associações

Eine erste Spaltung der Bewegung fand schon durch die "Carta da Favela" von 1980 statt, da die Besetzer von Grundstücken in öffentlichem Eigentum mit "gesunden" Bedingungen urbanisiert wurden, diejenigen, die von öffentlichem Grund mit "ungesunden" Bedingungen in das COHAB-Programm integriert wurden und die Besetzer von privaten Grundstücken im Ungewissen gelassen wurden.

Wichtiger wurde allerdings die organisatorische, politische und ideologische Spaltung der Bewegung. So nahmen an dem zweiten "Treffen der Stadtviertel" am 20. März 1983 schon 160 Delegierte aus 79 Vereinen teil, die allerdings in drei verschiedenen Dachverbänden organisiert waren: dem "Bündnis der Associações de Bairros von Paraná", der "Allgemeinen Union der Bairros, Vilas und Jardins von Curitiba und der metropolitanen Region" und in der "Bewegung der Associações de Bairro aus Curitiba und der metropolitanen Region".

Insgesamt ist die Bewegung 11 Jahre nach ihrer Entstehung zerschlagen und ihre Führerschaft resigniert, wie Rosa während ihrer Untersuchungen über die Periode 1977-83, die im Jahr 1988 stattfanden, feststellte. Sie führt das auf folgende Aspekte zurück:

Rosa betrachtet die parteipluralistische und kollektivistische Ausrichtung der Associações der anfänglichen Periode als erstrebenswert und erachtet die Wiedereroberung der Führungspositionen in der Bewegung durch alte "ideologisch sedimentierte" Führungspersonen als notwendig für das Wiederaufleben des "Movimento de Associações de Moradores e Amigos de Bairro de Curitiba".

zum Inhaltsverzeichnis

5.3. Abfallmanagement und Einbezug der Bevölkerung

Der Verlust der einheitlichen Organisation der Associações stellt auch einen Verlust an Partizipation der Favelabewohner an der politischen Definition von Prioritäten und Handlungsstrategien verstanden werden. Wie Rakodi (1993) feststellt, kann Partizipation der Bevölkerung aber auch anders, nämlich als Mittel zur Durchführung von Massnahmen der öffentlichen Hand verstanden werden. Die erste Massnahme bezüglich Recycling war Anfang der 80er Jahre die Organisation von Papiersammlern, die tagsüber auf den Strassen der Stadt Papier und Pappe aus dem Hausmüll sortieren und die nach dem gesammelten Gewicht bezahlt werden. Die Trennung des Hausmülls wurde dann im Jahr 1989 durch die Erziehungskampagne "lixo que não é lixo " (Müll, der kein Müll ist), die sich an die Schülerschaft der öffentlichen Schulen richtete, vorangetrieben. Broschüren und Fernsehspots über recyclebaren Müll lieferten die Hintergrundinformation und die Motivation für die Mülltrennung. 1992 wurden von speziellen Abfuhrwägen 20% des gesamten Hausmülls erfasst, was ca. 50 % des recyclebaren Mülls ausmacht (Unilivre 1992, zitiert in Menezes, 1996). Im berühmt gewordenen Müllankaufprogramm "Compra de lixo", das ursprünglich zur Verbesserung der hygienischen, bzw. epidemologischen Verhältnisse in Favelas eingeführt wurde, werden die Bewohner durch den Tausch von Müllsäcken gegen Lebensmittel oder Bildungsmaterial dazu angespornt, Müll zu sammeln. Die Müllwägen, für die die Favelas aufgrund der ungenügenden Erschliessung und der Art der überbauung nicht zugänglich waren, holen den Abfall an den Plätzen des "Câmbio Verde" (grüner Tausch) ab. Auch die Associações de Moradores werden in das Programm einbezogen und erhalten zusätzlich zu den durch die Bewohner eingetauschten Gütern einen Geldbetrag von 10% des Wertes der eingetauschten Güter.

zum Inhaltsverzeichnis

5.4. Innovative Instrumente in der Umsetzung und der Erfolg in der Weltöffentlichkeit

In der Untersuchung des Urban Management Programme der UNO von 1993 und in anderen Arbeiten werden noch weitere Eigenheiten der Stadtplanung in Curitiba hervorgehoben, die mit finanziellen Anreizen, aktiver öffentlicher Information und gross angelegten, durch Medienkampagnen unterstützten Aktionen sowohl in der Durchführung als auch in der internationalen Rezeption grosse Erfolge verbuchen konnten. Beispiele sind etwa Steuerbefreiungen für bepflanzte Grundstücke in Abhängigkeit vom Anteil der Grünfläche an der Gesamtfläche, ein Informationssystem, "das unmittelbar Auskunft über Bodennutzungs- und Bebauungsmöglichkeiten für jedes beliebige Grundstück gibt" (Rabinovitch and Leitman, 1996 S. 72) und die Kampagne "Ein Baum für jedes neugeborene Kind in Curitiba", die zeigen sollte, dass die Bestrebungen der Allgemeinheit für die Gesundheit des Kindes und des Baumes die gleichen sind. (Menezes, 1996).

Die Erfolge von Curitiba im Bereich der Verkehrsplanung, der Energieeffizienz, der Bereitstellung von Grünraum, des Müllmanagements und der industriellen Verschmutzung brachten der Stadt im Vorfeld der UNCED-Umweltkonferenz in Rio 1992 eine breite Behandlung in internationalen Zeitschriften wie "The Gazette" (Montreal), "The Financial Time", "Newsweek", "Time", "Expresso" (Portugal) oder "Le Monde" (Frankreich). Die Euphorie erreichte ein grosses Ausmass, wie etwa die folgende Aussage von Alan Jacobs, Professor für Stadt- und Regionalplanung der University of California in Berkeley zeigt: "Curitiba hat das beste Planungs und Entwicklungsprojekt der Welt. Die ganze Welt kann etwas von Curitiba lernen." (zitiert nach Menezes, 1996, S. 18). Die Idee der Verbreitung von erfolgreichen Ansätzen war auch für den Weltstädtetag wichtig, der 1992 in Curitiba stattfand und den Anfang der Bewegung der "lokalen Agenden 21" bildete.

zum Inhaltsverzeichnis

5.5. Projekte für Postkarten und Prospekte?

Wer sich heute für die Stadt Curitiba interessiert und sie besucht, kann sich von glorifizierenden Bildbänden inspirieren lassen (z.B. Ravazzani, 1991), mit der "Jardineira" die vielen Stadtparks besichtigen oder sich etwa im Rathaus in einer ständigen Ausstellung der öffentlichen Arbeiten der Stadt von deren Aktivität überzeugen. Das Planungsinstitut IPPUC bietet für Besucher wie ausländische Stadtplaner oder neugewählte Bürgermeister brasilianischer Städte Einführungen in die Stadplanungskonzepte und -projekte von Curitiba mit Führungen, Videovorführungen und der Möglichkeit zur Befragung von Mitarbeitern der Öffentlichkeitsarbeit des Instituts an. Aktuell sind die Neueröffnungen von "Ruas da Cidadania" (Strassen der Bürgerschaft, siehe Abbildung 6) in verschiedenen Stadtteilen, die dezentrale Verwaltungseinheiten darstellen. Das Ziel der Zentren, die oft an bestehende Busterminale angegliedert sind, ist es, die Dienstleistungen und Informationen der Stadtverwaltung bürgernäher zu gestalten. Neben Aussenstellen der COHAB, des Gesundheitsamts, der Telekommunikationsgesellschaft Telepar, der Elektrizitätsgesellschaft Copel und anderen werden auch Läden an kommerzielle Geschäfte vermietet (Santanna 1995).

Ein weiteres Projekt, für das sich besonders der Bürgermeister Rafael Greca (1993-96) eingesetzt hat, bilden die sogenannten "Faroles de Saber" (Leuchttürme des Wissens). Mit Vorbild des Leuchttums des antiken Alexandria und der dort existierenden Bibliothek stellen sie eine Verschmelzung von Orientierungspunkt, Wachturm und öffentlicher Bibliothek dar. Greca versteht dieses Projekt als Metapher: Bildung als Element von Sicherheit und sozialer Gleichheit (Broschüre "Farol do Saber", 1996). Beide Projekte gehen von wichtigen Bedürfnissen der Gemeinschaft aus, jedoch stossen sie nicht überall auf Vorliebe, wie der folgende Artikel aus dem kritischen Blatt "Paraná em paginas" zeigt:

"Diese Bibliotheken sind die teuersten "Leuchttürme des Wissens", die zigfach mit öffentlichen Mitteln erbaut werden, wobei sie Priorität über die Abwassernetze, den öffentlichen Wohnungsbau und andere dringende öffentliche Bedürfnisse gewinnen. [...] Diese Bibliotheken könnten auf herkömmliche Weise gebaut werden, [...] zu niedrigen Preisen, bei den geeigneten Schulen" (N.N, 1996, S. 22).

Abbildung 6: Einer der "Leuchttürme des Wissens" (IPPUC)

Samek (1996, S. 153) sieht die Ursache für die Priorität von "Projekten fürs Auge" über Sanierungsprojekte so: "Sicherlich weil Sanierungsprojekte - wie Kanalisierung von Strömen, Erstellung eines Abwassernetzes, Bau von Regenwasserabführungen etc. - unter der Erdoberfläche sind und deswegen keine Postkarten füllen".

Auch wenn diese Interpretation der Prioritäten der Stadtregierung aus der Feder eines Parlamentariers der Opposition politisch motiviert ist, weist sie doch auf eine Betonung öffentlicher Informationspolitik und Repräsentation hin, die im heutigen Curitiba allgegenwärtig ist.

zum Inhaltsverzeichnis

5.6. Das "öffentliche Interesse" als Leitlinie für eine autoritäre Stadtverwaltung

Entgegen hierzulande üblichen Vorstellungen von Partizipation, (vgl. z.B. Michel 1993), die sich auf die Teilnahme von Bürgern bzw. Vertretern von auch unpolitischen Interessengruppen an der Entwicklung von Zielvorstellungen, Ausarbeitungen und Evaluationen im Zusammhang mit Vorhaben der öffentlichen Hand beziehen, wird Partizipation in Curitiba vor allem als Teilnahme der Bevölkerung an der Ausführung von Projekten verstanden. "Partizipation wird für die effiziente Implementierung von Projekten als unentbehrlich erachtet, aber gleichzeitig als Hindernis für eine effiziente Planung angesehen". (Frey, 1996, S. 118)

Diese Einstellung gründet sich nach Frey (1996) auf die Vorstellung, dass in jedem Kollektiv ein Gemeininteresse existiert, welches einer guten Verwaltung bekannt ist und nach dem sie am besten handeln kann, wenn sie nicht durch "ideologische Aktivisten" gestört wird. Gleichzeitig wird der Curitibaner durch eine offensive Informationspolitik ständig über die laufenden Arbeiten in der Stadt informiert. Bei Einweihungen neuer Gebäude wie etwa der Stadtteilzentren "Strassen der Bürgerschaft" werden Konzerte und Feste veranstaltet, um eine Beziehung der Bürger zu den Werken und deren Akzeptanz sicherzustellen.

Rosa beantwortete in einem Interview vom Dezember 1996 die Frage nach Partizipationsmöglichkeiten der Bürger an Stadtplanungsprojekten: "Es gibt keine Partizipation in der Planung."

Auch ausserhalb der Stadtplanung im engeren Sinn findet der Curitibaner weniger Möglichkeiten, seine persönlichen Prioritäten einzubringen, als in anderen Städten Brasiliens. So gibt es in Curitiba kein "Orçamento participativo" (partizipative Erstellung des Haushalts) in der Art, wie es in vielen Städten existiert, die von der Arbeiterpartei PT regiert werden. In öffentlichen Veranstaltungen, die sich "Bairro Total" (Vorstadt Total) nannten, wurde der Bevölkerung lediglich bekanntgegeben, welche öffentlichen Arbeiten für welchen Stadtteil vorgesehen waren, ohne dass die Bürger bei der Ausarbeitung des Haushalts beteiligt gewesen wären (Samek, 1996).

Dass dieser Ansatz funktioniert, liegt sicher auch daran, dass die Stadtverwaltung Wert darauf legt, möglichst schnell konkrete Ergebnisse ihrer Projekte vorweisen zu können. So wurde das Müllankaufprogramm "Compra de lixo" in der ersten Woche nach dem Regierungswechsel 1992 von der neuen Regierung Lerner lanciert und implementiert (Frey, 1996). In der Bevölkerung wird dadurch ein Vertrauen in die planerische Effizienz aufrechterhalten, das vor allem in der Mittelklasse zu einer breiten Unterstützung der Regierung führt.

Nach Samek (1996) war es auch die bevorzugte Konzentration auf die Bedürfnisse der Mittelklasse und auf das Zentrum der Stadt, die dazu führten, dass Lerner in seiner dritten Regierungsperiode (1989-92) die Explosion von Neubesetzungen brachliegender Grundstücke wenig beachtete, und erst durch die Forderungen und den wachsenden Druck der Bewegung der Bewohner zu einer reaktiven Politik gezwungen wurde, die sich in der Erschaffung des grossen öffentlichen Wohnprojekts "Bairro Novo" (neuer Stadtteil) mit 10'000 Wohnungen niederschlug.

Die hier beschriebene autoritäre, selbstbewusste und aktive Haltung der Stadtregierung und -verwaltung ist sicher noch im Zusammenhang mit der Militärdiktatur zu sehen, in deren Kontext einerseits das zu einer wichtigen Entscheidungsinstanz aufgestiegene Planungsinstitut IPPUC entstand und andererseits Jaime Lerner zum ersten Mal die Geschicke der Stadt in die Hand nahm, der inzwischen zur Symbolfigur der Vorbildlichkeit Curitibas geworden ist. Dass die Bevölkerung kaum in die Planung der regelmässig international beachteten Stadtplanungsprojekte einbezogen wird, wird durch das Angebot einer umfassenden Information wettgemacht und durch die Möglichkeit, auf die eigene Stadt stolz zu sein, durch die Vermittlung des Gefühls, an einem besonderen Ort zu leben. Die Stadtplanung in Curitiba hat durch entschiedenes Vorgehen ohne Umschweife ein hohes Mass an Flexibilität und Umsetzungskraft erreicht, was sich in lokaler, nationaler und internationaler Anerkennung ausgewirkt hat.

zum Inhaltsverzeichnis

6. Synopsis

6.1. Curitiba als "capital ecológico"?

Curitiba is already modern. Now it shall be eternal
Rafael Greca, Bürgermeister 1992-1996

Die überschwängliche Behandlung von Curitiba in den Medien, die internationalen Preise und die vielen interessierten Besucher aus aller Welt haben dazu geführt, dass sowohl bei den Bürgern von Curitiba als auch bei wichtigen Funktionären wie dem Bürgermeister oder dem Präsidenten des IPPUC ein ausserordentlich ausgeprägtes Selbstbewusstsein entstanden ist. Wer einen Curitibaner oder eine Curitibanerin auf der Strasse fragt, was sie von ihrer Stadt halten, bekommt Antworten wie "Curitiba ist der beste Ort zum Leben auf der ganzen Welt" oder "Ich möchte in keiner anderen Stadt wohnen" (persönliche Gespräche im Dezember 1996).

Bei den Bürgern lässt sich eine solche Haltung durch die Vorliebe vieler Brasilianer, sich selbst positiv darzustellen, in Verbindung bringen. Während zum Beispiel in Deutschland und zum Teil auch in der Schweiz der offene Stolz auf die eigene Herkunft verpönt ist, ist es für viele Brasilianer selbstverständlich, sich mit dem eigenen Haus, dem Heimatort oder mit dem Reichtum der Natur Brasiliens zu brüsten.

Angesichts der Tatsache, dass 1990 ca. 110'000 Personen in Favelas lebten, was einem Anteil von 7% der Stadtbevölkerung von Curitiba entspricht (Leão und Silva 1991, zitiert nach Menezes 1996, S. 123), einer Abwassererfassungsrate von 59,45% sowie eines Anteils des geklärten Abwassers von 26% am gesamten Abwasser und insbesondere angesichts der fehlenden Perspektive, wie die Bildung von Elendsvierteln in den Griff zu bekommen sei, ist die Euphorie über die Vorbildlichkeit von Curitiba aus einer europäischen Perspektive nicht vollständig nachvollziehbar.

Alarmierend erscheinen die Ergebnisse einer Studie des paranaensischen Instituts für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (Ipardes): "Die Studie zeigt, dass Curitiba allein in den letzten fünf Jahren eine Zuwanderung von ca. 300'000 Menschen erfahren hat" (Samek 1996, S. 63). Bezüglich der Neubildung von Favelas kann also noch keine Entwarnung gegeben werden. Die Bewohner der Aussenbezirke zu Curitiba als "capital ecológico" zeigen demgemäss auch wenig Verständnis für eine solche Bezeichnung. Für sie sind die mangelhaften hygienischen Verhältnisse und die Notdürftigkeit ihrer Wohnverhältnisse zu gegenwärtig, um sie als "ökologisch" zu bezeichnen. (Gespräch mit Rosa, 1996)

Die notwendige Folgerung ist, dass die anhaltende Zuwanderung von Menschen aus ländlichen Gebieten als ernstzunehmendes Hindernis einer nachhaltigen Entwicklung der Stadt Curitiba angesehen werden muss. Die entsprechende Expansion der urbanen Ver- und Entsorgungsinfrastruktur erscheint als Mittel, das nicht an der Wurzel der ungewünschten Entwicklung angreift. Eine tiefere Ursache für die nach wie vor existierende Misere in grossen Teilen der urbanen Peripherie liegt in dem Verschwinden des Menschen aus den landwirtschaftlichen Produktionsstrukturen, an der marginalisierten Stellung, die der Kleinbauer oder Landarbeiter in einer von Grossgrundbesitzern und der Chemie- und Saatgutindustrie bestimmten Landwirtschaft einnimmt (vgl. Pater, 1994) .

Dies zeigt auch, dass die Nachhaltigkeit eines begrenzten Raumes wie einer Stadt nicht allein aus inneren Parametern bestimmt wird. Auf die Probleme, die sich bei der Beurteilung von Nachhaltigkeit eines räumlich beschränkten Systems ergeben, wurde an anderer Stelle hingewiesen (Ranke 1997). Erst ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Stadt und Land ermöglicht eine nachhaltige Entwicklung für die voneinander abhängigen Teile: "Dieser Ansatz [der Konzentration auf die Entwicklung auf dem Land] bezieht sich auch auf die allgemeine Feststellung, das ebenso wie Entwicklung nur im Vergleich mit Unterentwicklung anderswo verstanden werden kann, die urbanen Bedingungen nur richtig eingeschätzt werden können, wenn deren enge funktionale Beziehung zu ländlichen Bedingungen berücksichtigt wird." (Devas and Rakodi 1993).

Insgesamt ist aber offensichtlich, dass die Stadtverwaltung von Curitiba trotz der Bemühungen um staatlichen Wohnungsbau (COHAB), Verhandlungen mit privaten Grundeigentümern zur Legalisierung von Landbesetzungen, Ausweitung der Versorgungsnetze und Unterstützung privater Bautätigkeiten die Etablierung von irregulären Ansiedlungen mit unzureichender Infrastruktur, also Favelas, nicht verhindern konnte, und auch in absehbarer Zeit nicht verhindern können wird.

6.2. Hochglanzprospekte und Industrieansiedlungen: Hat der curitibanische Ansatz Zukunft ?

Wenn die Audi AG im Dezember 1996 bekanntgab, dass sie in ein neues Autoproduktionswerk in Curitiba 750 Mio. Dollar investieren werde, in der neuen Fabrik in Zukunft voraussichtlich 1'500 bis 2'000 Mitarbeiter beschäftigt würden und zusätzlich 7'000 bis 10'000 Menschen bei den Lieferanten beschäftigt werden würden (1996), so stellt das zweifelsfrei einen weiteren Erfolg der Stadt im weltweiten Wettbewerb der "Standorte" um die Ansiedelung von Niederlassungen internationaler Unternehmen dar. Die entstehenden Arbeitsplätze werden eine Vergrösserung der Mittelklasse bewirken können und die (nach Abzug der Vergünstigungen verbleibenden) Steuereinnahmen können der Stadtregierung helfen, auch in Zukunft die Handlungsfreiheit für innovative Ansätze zu behalten.

Hält man sich aber auf der anderen Seite die Grösse des noch immer anhaltenden Zuwandererstroms und die Inkompatibilität der modernen Industrien mit den Zehntausenden von Favelabewohnern vor Augen, so stellt sich die Frage, wie in einer globalisierten Gesellschaft, in der zukünftig vielleicht nur noch 20% der Menschen für die Abwicklung der wirtschaftlichen Leistung gebraucht werden (Martin and Schumann 1996) mit denjenigen verfahren wird, die zwar von diesen wirtschaftlichen Leistungen abhängig geworden sind, aber die in einem stark aufgeblähten, wenig bildungsintensiven und weitgehend informellen Teil des tertiären Sektors versuchen, ein wenig Kaufkraft zu erringen, um diejenigen Produkte erwerben zu können, deren Kauf nicht erwünscht ist, um die Wirtschaft zu stimulieren, sondern deren Produktion in immer deutlicherem Ausmass an naturgegebene Grenzen stösst.

Die vorliegende Arbeit zeigt, dass die rational-effiziente Planung von Curitiba das Problem der Favelas nicht lösen konnte. Die Wahrnehmung der Elendsviertel und der Forderungen ihrer Bewohner durch die Stadtverwaltung hinkte hinter der realen Entwicklung hinterher, und wenn ein grossangelegtes Wohnbauprogramm fertig war und eine Favela durch Erschliessung urbanisiert wurde, so waren die nächsten Besetzungen von unerschlossenem Land schon längst geschehen.

Wenn die Favelas nicht verhindert werden können, so ist ein wichtiger Aufgabenbereich einer Stadt die dauernde Integration der neu entstehenden Strukturen. Vor dem Hintergrund der beschränkten finanziellen und administrativen Resourcen selbst einer Stadt wie Curitiba, die sich einen gewissen Handlungsspielraum erhalten konnte, scheint es dabei unumgänglich, die organisatorischen Kapazitäten und den Willen zur Verbesserung der eigenen Situation in den Favelas selbst zu nutzen. Mit den Associações de bairro sind in Curitiba Organisationen entstanden, die weitgehend unabhängig, basisbezogen und nicht gewinnorientiert sind, also als NGOs verstanden werden können.

Die Stärke einer Stadtverwaltung unter den Bedingungen ständiger Expansion und Zuwanderung kann vermutlich in Zukunft daran gemessen werden, inwieweit sie in der Lage ist, die inhärenten Organisationstendenzen einer formell kaum zu erfassenden oder zu verwaltenden städtischen Schicht (informeller Sektor, irreguläre Siedlungen) zu nutzen und Informations- und Organisationsschnittstellen zu finden, die dennoch eine gewisse Koordination der Interessen erlauben. Der top-down-approach, der bezüglich der raumbezogenen Entscheidungen zentralisierte Ansatz von Curitiba stösst offenbar durch die mangelnde Erfassbarkeit und durch die Schnelligkeit der beschriebenen Entwicklungen an seine Grenzen.

Will man der Problematik der Explosion der urbanen Bevölkerung in Entwicklungsländern und der damit einhergehenden Verelendung eines Teils dieser Bevölkerung gerecht werden, so muss allerdings neben einer strategischen Neuorientierung auch weiterhin die Frage diskutiert werden, worin die Ursachen dieser an sich ungewollten Entwicklung liegen. Die Behandlung dieser Frage würde selbsverständlich den Rahmen dieser Arbeit sprengen, es sollen jedoch noch einige abschliessende Überlegungen dazu angeführt werden.

zum Inhaltsverzeichnis

6.3. Liegt die Explosion der städtischen Bevölkerung in Entwicklungsländern im Projekt der Moderne begründet ?

Da, wie in Kapitel 3.5. beschrieben, Curitiba das Projekt der Moderne mit Konsequenz verfolgt hat und die Funktionen Verkehr und Kommunikation, die durch die immer weiter gehende Fraktionierung der menschlichen Tätigkeiten wichtiger geworden sind, auf seine Weise gefördert hat, fragt sich, weshalb trotz der inneren Konsequenz hier Probleme entstanden sind und Defizite bestehen bleiben, über die nicht hinweggesehen werden kann. Insbesondere wenn man von dem Ideal einer nachhaltigen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ausgeht, kann man sich mit den Verhältnissen, wie sie in Curitiba stellvertretend für Städte in "Entwicklungsländern" generell aufzufinden sind, nicht abfinden.

Eine tiefgehende Analyse der Ursachen der Explosion der städtischen Bevölkerung und der resultierenden Neuorientierungen kann nicht Inhalt dieser Arbeit sein. Es ist aber in deren Verlauf eine interessante Parallele aufgetaucht. Es wurde gesagt, dass durch die räumliche Trennung verschiedener menschlicher Tätigkeiten in der modernen Stadt die Funktionen Verkehr und Kommunikation an Bedeutung gewinnen. Ebenfalls fiel auf, dass das Verkehrssystem von Curitiba vermutlich der Schlüssel zu der vergleichsweise guten Bewältigung der Probleme der modernen Stadt war. Bezüglich der Kommunikation fiel auf, dass zwar ein erheblicher Informationsfluss von der Stadtregierung zu Bevölkerung stattfand, ebenso wie die Kommunikation zwischen der Stadtregierung und anderen Städten sowie internationalen Unternehmen bestens funktionierte, die Informationen über die Unzulänglichkeiten der Wohnbedingungen der Favelas und der immer neuen Zuwanderung fanden jedoch nur schwer den Weg in die entscheidenden Organe und erreichten noch weniger die Aufmerksamkeit der internationalen Medien.

Auf diese Weise würde man auch der Entmündigung weiter Bevölkerungsschichten entgegenwirken, die seit einiger Zeit Gefahr laufen, an den beschränkten, aber immerhin weitgehend etablierten Mitwirkungsmöglichkeiten demokratischer Staaten vorbei in Abhängigkeiten vom wirtschaftlichen Produktionssystem zu geraten, dessen Bedingungen mehr und mehr durch einen weltweiten Wirtschaftskrieg um Marktanteile diktiert werden.

Vielleicht gibt es hier einen Ansatzpunkt für eine ausgleichende Politik, indem der Informationsfluss in beide Richtungen gefördert würde. Das könnte einerseits der Regierung eine vorausschauendere, bewusstere Politik ermöglichen, andererseits könnte die Vermittlung eines ausgewogeneren Bildes der Stadt zu einer realistischeren Einschätzung der Zuwanderer führen, und sie eventuell von der Migrationsentscheidung abhalten. Denn zur Zeit wird, ganz im Sinne eines "urban bias" (vgl. Rakodi in Devas, 1993) ein wahrer Stadtkult betrieben.

Am Ende des Kapitels 2.3. wurde schon angedeutet, dass die Besetzung von urbanen Grundstücken auch als Zeichen gedeutet werden kann, dass in Brasilien noch keine befriedigende Lösung des Problems des Grundeigentums gefunden wurde. Die von der Regierung immer wieder programmierte Agrarreform erschöpfte sich bisher fast ausschliesslich in Lippenbekenntnissen oder in der Verteilung von für europäische Formen von Landwirtschaft ungeeigneten, schlecht erschlossenen Flächen in Amazonien.

Hätte die Bewegung der Bewohnervereine in Curitiba, wie Rosa (1991, S. 236) zur Debatte stellt, nicht im Rahmen des herrschenden Paradigmas von der Gültigkeit des privaten Grundeigentums handeln dürfen, indem sie als Hauptziel um den Erwerb der Einschreibung ins Grundbuch kämpfte, statt sich für die Aneignung von kollektiven Gütern für die Gemeinschaft einzusetzen ?

Auch wenn man die Gewährleistung des persönlichen Grundeigentums nicht in Frage stellen will, so bleibt die Herausforderung, den Grundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums in einer nach wie vor von einer Kolonialherrenmentalität geprägten Gesellschaft nicht nur durch das Bereitstellen von "tittytainment" (Mindestversorgung und mediale Ruhigstellung) zu verwirklichen, sondern auch in marginalisierten Schichten Menschen zu sehen, die Verantwortung für ihre Zukunft und ihre Mitwelt übernehmen können und wollen.

Literatur

(1996). Standortentscheidung für brasilianisches Audi-Werk. Süddeutsche Zeitung. München.

Curitiba, P. M. d. (1994). Curitiba nas trilhas da igualdade. Curitiba, IPPUC - Instituto de Pesquisa e Planejamento Urbano de Curitiba.

Devas, N. and C. Rakodi, Eds. (1993). Managing fast growing cities. Essex, Longman Scientific&Technical.

Fernandes, A. (1979). Planejamento urbano de Curitiba: A institucionalização de um processo. Engenharia. Rio de Janeiro, Universidade Federal de Rio de Janeiro.

Frey, K. (1996). "Crise do estado e estilos de gestão municipal." Lua Nova 37: 107-138.

Gilbert, A. and J. Gugler (1992). Cities, poverty and development. Oxford, Oxford University Press.

IPPUC Homepage vom 10.2.2000, http://www.ippuc.pr.gov.br/

Main, H. and S. W. Williams (1994). Environment and housing in third world cities. Stephen Wyn Williams. H. Main. New York, John Wiley & Sons.

Martin, H.-P. and H. Schumann (1996). Die Globalisierungsfalle / Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt.

Menezes, C. L. (1996). Desenvolvimento urbano e meio ambiente: A experiencia de Curitiba. Campinas, Papirus Editora.

Michel, S. (1993). "Die Mitwirkung der Bevölkerung in der Ortsplanung."DISP 113: 20-24.

N.N (1996). Anote como é gasto o dinheiro do povo em Curitiba (tempo Greca). Paraná em páginas. Curitiba: 19-22.

Pater, S. (1994). José Lutzenberger - Das grüne Gewissen Brasiliens. Göttingen, Lamuv Verlag.

Pereira, A. (1988). A democracia participativa no desenvolvimento urbano. Curitiba, Ki-Copy.

Rabinovitch, J. (1992). "Curitiba: Towards sustainable urban development." Environment and Urbanization 4(2): 62-73.

Rabinovitch, J. and J. Leitman (1996). "Stadtplanung in Curitiba." Spektrum der Wissenschaft(Mai 1996): 68-75.

Rabinovitch, J. and J. Leitmann (1993). Environmental innovation and management in Curitiba, Brasil. Washington, D.C., Urban Management Programme.

Ranke, J. (1997). Nachhaltigkeit in einem Industrieareal. Zentrum Zürich Nord - Stadt im Aufbruch: Bausteine für eine nachhaltige Stadtentwicklung. R. W. Scholz. Zürich, vdf Hochschulverlag.

Ravazzani, C., H. W. Filho, et al. (1991). Curitiba: Capital ecológica/The ecological capital. Curitiba, EDUBRAN.

Rey, R. (1997). Tages-Anzeiger. Zürich.

Rosa, M. A. (1991). Movimento de associacões de moradores e amigos de bairros de Curitiba. Historia e filosofia de educacão. São Paulo, Pontificia Universidade Catolica de São Paulo.

Samek, J. (1996). A Curitiba do terceiro milênio. Curitiba, Editora Palavra.

Santanna, M. (1995). Curitiba inaugura "Rua da Cidadania". Folha de São Paulo. São Paulo: 3-3.

Schmid, W. A. (1994). Vorlesung: Raumplanung Grundzüge - Eine Einführung für Ingenieure. Zürich.

Wöhlcke, M. (1987). Brasilien, Anatomie eines Riesen. München, Beck.